Aus der Mitte der Gesellschaft: „Wir sollten wieder einen Führer haben …“

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By Sebastian Reinfeldt

1980 wurde vom damaligen westdeutschen Bundeskanzler Helmut Schmid die sogenannte Sinus-Studie in Auftrag gegeben. Ihr Ergebnisse  – 13 Prozent der Westdeutschen verfügen über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild, weitere sind dafür anfällig – erschreckten, auch, weil sie die entsprechende Studien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigten. Auszugehen ist von einem rechtsextremen Bodensatz von rund 20 Prozent der Bevölkerung, der konstant und unabhängig von der politischen und sozialen Situation besteht. Nun ist die Leipziger Studie Die enthemmte Mitte erschienen, die sich, so wie die Sinus-Studie, auf das methodische und theoretische Instrumentarium der Frankfurter Autoritarismus-Studien bezieht. Eines ihrer Ergebnisse: „Die Zahl der Personen mit rechtsextremen Einstellungsmustern ist im Vergleich zu den Vorstudien seit 2002 nicht gewachsen, aber sie sind sichtbarer und lauter geworden. Den rechten Einstellungen folgen jetzt vermehrt auch Handlungen, z.B. Wahlentscheidungen, Demonstrationen usw. „ Aber bereits unmittelbar nach Erscheinen der Studie wurde an der Methode der Leipziger Studie und an ihrem begrifflichen Instrumentarium Kritik geübt. 

Bereits die Auftraggeberinnen der Leipziger Mitte-Studie lassen aufhorchen: Die linke Rosa-Luxemburg-Stiftung, die grüne Heinrich-Böll-Stiftung und die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung haben diese Studie finanziert, die die Langzeitmessungen des durchführenden „Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung“ an der Leipziger Universität seit 2002 fortsetzt. Es handelt sich dabei also nicht um irgendeine schnelle Umfrage, sondern um eine erprobte Methodik und um harte Daten, die sich in einer Zeitreihe gebracht gut miteinander vergleichen lassen. Gefragt wurde übrigens nicht am Telefon oder mit einem Online-Fragebogen, sondern von Angesicht zu Angesicht (face-to-face), regional und soziografisch genau verteilt, aber nach Zufallsprinzip ausgewählt. So wurden 2420 Personen aus einer entsprechenden Zahl von Haushalten in ganz Deutschland besucht.

Rechtsextremistische Einstellungen sind in den Mikrofasern der Gesellschaft relevant

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Auszug aus den Ergebnissen der Leipziger Studie

In Fragebogenform gegossen wurde eine von den Forscherinnen und Forschern 2001 festgelegte Konsensdefinition zu Rechtsextrmismus:

Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affi nität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.

Die Auswertung der Antworten erlaubt einen interessanten Einblick in die ideologische Verfasstheit der Deutschen. Grob gesagt radikalisiert sich ein Teil der Gesellschaft in Richtung autoritäre, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen, währenddessen die demokratischen Milieus zahlenmäßig wachsen und auch ideologisch stabiler werdem. Besonders erschreckend erscheint im Zusammenhang mit den autoritären Milieus, dass die Bereitschaft zur autoritären Aggression hoch ist und deutlich zunimmt, nämlich von 58,8 Prozent im Jahr 2006 auf 67,5 Prozent aktuell 2016. 20 Prozent der Befragten deklarierten, sie könnten es sich vorstellen, mit körperlicher Gewalt gegen Fremde vorzugehen, und rund 28 Prozent fänden es gut, wenn jemand mit Gewalt für Ordnung sorgen würde. Dem entsprechen dann stark positiv bewertete Aussagen zur Entfremdung von Politik: Mehr als 60 Prozent der Deutschen sehen sich von der politischen Mitbestimmung völlig abgekoppelt, für mehr als die Hälfte ist es sinnlos, sich politisch zu engagieren und ebenfalls mehr als die Hälfte fühlt sich unwohl und unsicher derzeit.

Interessant sind auch die Ergebnisse zum Komplex Sexismus, der in der aktuellen Studie zusätzlich zu den klassischen Rechtsextremismus-Dimensionen erforscht worden ist. Moderner Sexismus liegt dann vor, wenn die Benachteiligung von Frauen geleugnet wird, und hier gibt es Zustimmungsraten von über 40 Prozent, während der klassische Sexismus vergleichsweise eine Minderheitenhaltung darstellt. Aber über 20 Prozent der Deutschen meinen immerhin, Frauen sollten sich wieder mehr „auf die Rolle als Mutter und Hausfrau besinnen“.

Nimmt Antisemitismus ab?

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Antisemitismus 2006 – 2016

Der Doppelbotschaft der Studie – einerseits wird ein sich radikalisierender und enthemmter Kern in der Mitte der Gesellschaft immer sichtbarer, andererseits wächst die demokratische Kultur und auch ihre anti-autoritären Umgangsformen – entspricht die These, dass der klassische Antisemitsmus in Deutschland abnehme. Er werde quasi abgelöst von einem anti-muslimischen Rassismus, der derzeit diejenigen politischen Milieus dominiert, die rechtsextremen Einstellungen folgen. Dieser These wurde von Seiten der Antisemitismusforschung vehement widersprochen. So wie man beim Sexismus moderne und klassische Formen trenne, so müsse dies auch beim Antisemitismus vorgenommen werden: „Manchmal „belegen“ empirische Studien nur genau das, was sie aufgrund historischer und/oder theoretischer Kurzsichtigkeit verkürzt abfragen — so auch mit Blick auf die seltsamen Annahmen bzgl. eines angeblichen Rückgangs antisemitischer Einstellungen in Deutschland aus der neuen Leipziger „Mitte“-Studie, was jetzt auch die Verfasser einräumen,“ kommentierte der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn auf Facebook und im Berliner Tagesspiegel.

Zum einen kommen andere Untersuchungen regelmäßig zu dem Ergebnis, dass auch Antisemitismus in der Gesellschaft zunehme. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2012 besagt, dass antisemitische Einstellungen bei knapp einem Drittel (28 Prozent) der Bevölkerung festzustellen ist. In der Mitte-Studie wurde zum anderen darauf verzichtet, eine bestimmte Form der Israelkritik als modernen Antisemitismus zu bezeichnen und abzufragen. Konkret geht es um Vergleiche der Politik Israels mit den Verbrechen der Nationalsozialisten oder um das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung. Diese Dimensionen wurden in der Mitte-Studie erst gar nicht abgefragt, weil sie sich auf den anti-moslemischen Rassismus konzentriert hat. Die Mitte-Studien Verfasser gestehen dies ein. Sie selbst schätzen den antisemitischen Bodensatz in der deutschen Gesellschaft auf „20 bis 30 Prozent“.

Abschließend stellt sich die Frage, warum es für Österreich nicht eine vergleichbare Studie (nicht irgendeine Umfrage) zu den politischen Milieus im Lande gibt. Daran schließt sich die Forderung an, dass eine solche in Auftrag gegeben werden soll.

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