Infektionsschutz als Krankheit

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Am 10. Oktober ist der Welttag der psychischen Gesundheit. Diesen Gedenktag nehmen wir zum Anlass, den Zusammenhang von Pandemie, Pandemie-Maßnahmen und psychischen Erkrankungen anzusprechen. Aber gegen den Strich. Denn die Leiden psychisch Kranker während der Pandemie werden zwar erkannt, aber für Agitation gegen Gesundheitsschutz eingespannt, findet unser Gastautor Paul Schuberth. Dies tut, nicht zuletzt, auch der österreichische Gesundheitsminister Johannes Rauch.

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Durchseuchung als Schutz vor psychischen Erkrankungen?

Die tödliche Durchseuchungsstrategie menschenfreundlich erscheinen zu lassen, verlangt eine gewisse Kreativität in der Argumentation. Zum Pool von Argumenten gehört seit langem der Hinweis darauf, dass strengere Eindämmungsmaßnahmen unverantwortbare seelische Folgen nach sich ziehen würden. Was im einen Fall ehrliche Empathie mit psychisch belasteten Menschen bedeuten kann, ist im anderen die Instrumentalisierung des Leids psychisch Erkrankter – wenn etwa die uneindeutige, komplizierte Studienlage in dieser Frage auf einfache Leitsätze heruntergebrochen wird, um politische Entscheidungen zu rechtfertigen.
Für einen beispielhaften Fall hatte Gesundheitsminister Johannes Rauch Ende Juli gesorgt, als er die bevorstehende Abschaffung der Quarantänepflicht für Infizierte mit der Bedrohung der psychischen Gesundheit Jugendlicher begründete. Sollte also die Abschaffung der Quarantäne eine Linderung der Qualen eines psychisch belasteten Kindes mit sich bringen? Etwa, indem seine Mutter sich endlich auch als Infizierte in die körperlich anstrengende Arbeit werfen darf, was nachweislich die Gefahr von Long Covid erhöht? Indem sein Geographielehrer endlich auch infiziert in die Arbeit muss, wo er nicht nur die Gesundheit anderer riskiert, sondern auch eine von Eltern lancierte Anzeige gegen seine Person?

Zehn wissenschaftliche Studien, die Rauchs Aussagen n i c h t belegen

Davon müsste man ausgehen, nähme man Rauch ernst. Eben das tat auch die Ö1-Journalistin Tanja Malle, als sie die zehn wissenschaftlichen Studien durcharbeitete, die der Gesundheitsminister als Bekräftigung seiner Aussagen auf Twitter gepostet hatte. Das Ergebnis ihrer Recherche: Keines der angeführten Studienergebnisse legte nahe, Maßnahmen zu lockern, um die psychische Gesundheit zu stärken.

Stattdessen empfehlen alle mit unterschiedlicher Gewichtung mehr Forschung und Prävention, Hilfe für Eltern, Ausbau der Versorgung, Bereitstellen von digitalen Angeboten. Studien, aus denen sich nicht einmal ein eindimensionaler Zusammenhang zwischen Anti-Corona-Maßnahmen und der Zunahme psychischer Erkrankungen herauslesen lässt, verwandelten sich im Gesundheitsministerium zu Argumenten für die Durchseuchung zum Wohle der Menschen.

Zum Beispiel: Spießrutenlaufen im Supermarkt

Argumentationen wie die von Rauch, die die tatsächliche Bedrohung der Kinder und Jugendlichen für eigene Zwecke einspannen, sind selbst eine mehrfache Bedrohung. Und zwar eine für vulnerable Personen, für die die Abschaffung der Quarantäne etwa den notwendigen Besuch im Supermarkt zum Spießrutenlauf werden ließ – und denen sich, wehren sie sich gegen die neuen Bestimmungen, nun reinen Herzens nachsagen lässt, sie hätten Kinderleben am Gewissen; eine Bedrohung für psychisch erkrankte Menschen, die aus dem instrumentellen Vorbringen ihres Leids für niedere Zwecke ablesen können, wie es um eine mögliche Verbesserung ihrer gesundheitlichen Versorgung bestellt ist; eine Bedrohung für alle, da offizielle Angriffe auf die noch akzeptierte Vernunft Angriffe auf als „Vernünftige“ Gebrandmarkte mit vorbereiten.

Anstieg der Fälle psychischer Erkrankungen

Unbestritten ist, dass es im Zuge der Corona-Pandemie zu einem beobachtbaren Anstieg der Fälle psychischer Erkrankungen kommt. Über die Interpretation dieses Umstandes allerdings sollte gestritten werden – denn zu oft folgte sie bislang Mustern, die politische Notwendigkeiten vorgestanzt hatten. Auf Rauchs Verdrehungen war damals kaum öffentliche Kritik gefolgt. An das Anführen des Leidensdrucks psychisch Erkrankter, nur zum Zweck der Agitation gegen strengeren Gesundheitsschutz, ist man schließlich als neue Normalität bereits gewöhnt. Schon die ersten Falschmeldungen über eine erhöhte Suizidalität während des ersten Lockdowns im April 2020 hatten die Verantwortlichen gerne aufgegriffen, um vermeintlich wissenschaftlich fundiert eine Deckungsgleichheit zwischen dem Wohl des Kapitals und dem der Menschen zu verlautbaren: Wenn die Schließung der Arbeitsstätte die Menschen krank macht, dann ist die viel zu frühe Öffnung von Fabrikhallen und Büros zur Rettung der Profitrate ein wesentlicher Beitrag zum Gesundheitsschutz. An einem ist ja nicht zu zweifeln – dass in einer Welt, in der das Funktionieren das Höchste der Gefühle ist, die Anordnung, nun nicht mehr funktionieren zu dürfen, mitunter tragische Spuren im Einzelnen hinterlässt. Das Hinterhältige ist: Natürlich zwangen die Lockdowns, deren soziale Abfederung dürftig war, die Menschen dazu, sich nach einer Rückkehr in den vielleicht verhassten Job als der größtmöglichen Freiheit zu sehnen. So wie krankmachende Einsamkeit dazu führen kann, sich wieder nach der Beziehung mit dem Tyrannen zu sehnen, so lässt uns Arbeitslosigkeit im Kapitalismus hoffnungsfroh an den Arbeitsdruck denken. Kein Vertreter der Industrie musste jemals lügen, wenn er anführte, den Menschen sei eine schnelle Rückkehr in die Firma wichtiger als strenger Gesundheitsschutz. In diesem Klima werden die letzten Trümmer einer Diskussion darüber beseitigt, ob nicht schon das normale berufliche Dasein, das Funktionieren selbst, psychische Wunden hinterlassen kann.

Gemeingefährliche Komplexitätsreduktion

Angesichts von Studien, die eine Verschlechterung des allgemeinen psychischen Gesundheitszustandes beweisen, urteilt der „gesunde Hausverstand“, und mit ihm Coronaverharmloser aller Lager: Die soziale Isolation und die Angstmache seien schuld.

Das ist eine Komplexitätsreduktion, die ans Gemeingefährliche grenzt. Denn neben diesen Faktoren führen die Studien als Gründe finanzielle Unsicherheit und berufliche Belastung, oder die Angst vor Ansteckung an, ebenso erwähnt werden müssen Gruppendruck und Mobbing, und speziell bei Kindern und Jugendlichen auch der innere Zwiespalt, die Eltern nicht anstecken, gleichzeitig aber auch wieder sozial aktiver sein zu wollen. Nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der empirischen Wissenschaft fällt, kühne Überlegungen wie die auszusprechen: Kann nicht auch der Umstand, dass zu gewissen Zeiten private Spaziergänge verboten, die täglichen Fahrten zur Arbeit aber nach wie vor Pflicht waren, den psychischen Leidensdruck erhöhen – ja sogar zu kognitiven Verzerrungen führen, notwendig, um weiter zu funktionieren? Muss einen ein Konzept wie die Arbeitsquarantäne (Deutschland) nicht verzweifeln lassen, das vorsieht, bei Infektion zwar arbeiten zu gehen, sonst aber nicht außer Haus zu dürfen?

Einer persönlichen Psychose entgeht wohl nur, wer sich der willkommenen Massenpsychose anschließt, die einem den Tod von über 20 Millionen Menschen als erträglich vorgaukelt.

Leicht abnehmende Suizidrate in der Pandemie

Eine großangelegte deutsche Daten-Studie fand heraus, dass die Suizidrate insgesamt im Vergleich zu den Vor-Pandemiejahren leicht abnahm. Einige Differenzierungen sind interessant: So nahmen die Suizide bei Frauen unter zwanzig Jahren signifikant ab, wohingegen die Rate bei Frauen über 80 deutlich anstieg, jene bei Männern vor allem bei den über 91-Jährigen. Die Studie, die eruieren soll, ob diese Entwicklung mit internalisiertem Sozialdarwinismus zu tun hat – „Es sterben ja nur die Alten!“ –, wird nicht finanziert werden.

Wahrscheinlich fehl geht, wer eine Korrelation zwischen erhöhter Suizidrate und Strenge bei der Bekämpfung der Seuche vermutet. In Neuseeland etwa, das lange ein ZeroCovid-Land war, nahmen die Suizide in allen Altersgruppen ab. Unterstützt wird diese Erkenntnis auch von einer Langzeitanalyse von Daten aus 15 Ländern zur Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Strenge von Maßnahmen und mentaler Gesundheit darstellt. Die Autorinnen der Analyse kommen zwar zum Schluss, dass eine höhere „stringency“ der Maßnahmen mit einer schlechteren allgemeinen mentalen Gesundheit einhergeht. Doch weisen sie auch darauf hin, dass Länder mit einer Eliminierungs-Strategie – aufgrund von früher gesetzten Maßnahmen, strengerem Kontakt-Tracing etc. – auf weniger strenge Maßnahmen zurückgreifen mussten. Dies wirkte sich ebenso vorteilhaft auf die psychische Gesundheit aus wie die Tatsache, dass in diesen Ländern weniger Todesfälle durch COVID-19 wie auch weniger schwere Verläufe zu verzeichnen waren. Auf welche Studien man sich auch verlässt und beruft: Wenn man ihre Ergebnisse als Ausdruck von Naturgesetzen absolut nimmt, beraubt man sich der Fantasie, wie es anders hätte sein können. Denkbar etwa ist eine Gesellschaft, in der die Jahre der Jugend nicht als unwiederbringliche goldene Zeit gelten, weil auch ab zwanzig mehr zu erwarten wäre als Arbeitsdruck und Familienstress – und dadurch die Tragweite von kurzfristiger sozialer Isolation gemindert wäre. Vorstellbar ein Umfeld, in dem zumindest im lebensrettenden Schullockdown der Prüfungsstress abgeschafft wäre, und Schülerinnen nicht zittern müssten, ob sie sich auch unter erschwerten Bedingungen ausreichend gute Zensuren abholen können.

Macht Durchseuchung (die Psyche) gesund?

Polemisch ließe sich zusammenfassen: Im Kapitalismus müssen die schweren psychischen Nebenwirkungen des Lockdowns – der die für die Weltmarktkonkurrenz wesentlichen Wirtschaftsbereiche nie betreffen durfte und dadurch in der Effektivität eingeschränkt war – als Beweis für die vermeintlich bestmögliche Pandemiebekämpfung herhalten, wie auch als Argument gegen weitere ähnlich strenge Maßnahmen. Letzten Endes lief das auf ein Gegeneinander-Ausspielen von psychischer und physischer Gesundheit heraus. Die psychische Erkrankung des Enkelkindes gilt dann als Indiz dafür, dass für Großvater, von dessen Psyche in einer gefährlichen Zeit nie jemand sprach, bis zu seinem COVID-Tod genug Opfer gebracht worden waren.
Nichts deutet darauf hin, dass der psychische Zustand speziell der Kinder besser wäre, wenn die ungebremste Durchseuchung noch früher eingesetzt hätte. Oder würden es die Millionen Kinder, die durch COVID-19 zu Vollwaisen gemacht wurden, als eine seelische Erleichterung verspüren, wenn sich noch viel mehr Eltern für die psychische Gesundheit ihrer Nachkommen geopfert hätten? Ginge es den Angehörigen der weltweit ca. 150.000 durch COVID-19 getöteten Gesundheitsarbeiter*innen wesentlich besser, wenn sie wüssten, dass der Einsatz ihrer Liebsten ein noch schneller verdampfender Tropfen auf den heißen Stein gewesen wäre?

Unterdessen warnen US-Medizinerinnen vor vermehrten Suiziden infolge einer Long-Covid-Erkrankung, die schwere psychiatrische und neurologische Symptome mit sich bringen kann.

Covid-Risikogruppe: Menschen mit psychischen Erkrankungen

Wie leicht sich das instrumentelle Einspannen des Leids psychisch Erkrankter durchsetzen lässt, spricht auch für eine Tabuisierung solcher Krankheitsbilder, die die Ideologie des kapitalistischen Normalvollzuges schwieriger zu fassen kriegt. Hätte nicht sonst sofort in den Medien damit gekontert werden müssen, dass für manche Angsterkrankte die Lockdowns eine Möglichkeit zur langsamen Erholung sein konnten? Dass für Zwangserkrankte z.B. die Pflicht zum Händewaschen für alle eine Entstigmatisierung bedeuteten konnte, dass für sie, neben vielen anderen, die Aufhebung der Maßnahmen ihrem Ausschluss aus der Gesellschaft gleichkommt? Zusätzlich wurde kaum thematisiert, dass psychisch erkrankte Menschen mit einem erhöhten Risiko konfrontiert sind, an COVID-19 schwer zu erkranken oder zu sterben. Eine US-amerikanische Studie kam zu dem Schluss, dass Schizophrenie der zweitgrößte Risikofaktor für einen tödlichen COVID-19-Verlauf ist.

Menschen mit psychischen Erkrankungen sterben beinahe doppelt so oft infolge einer COVID-19-Erkrankung als andere Infizierte. In Österreich wurden psychisch erkrankte Menschen erst im Frühjahr 2021 als Risikogruppe anerkannt.
Aber ist das gestiegene mediale Interesse für das Thema generell nicht zu begrüßen?

Das wäre es, wenn es dadurch zur materiellen Verbesserung im Bereich der Versorgung psychisch Kranker kommen sollte. Auffallend aber ist, dass hauptsächlich solche Schwächen diskutiert und präsentiert wurden, die ohne viel böswilliges Zutun als Stärke codiert werden können: So wird die Depression wegen der Kurzarbeit zum Mut, bald wieder alles für die Firma geben zu wollen. Und der Zusammenbruch des Selbständigen wegen des wirtschaftlichen Ruins zum Beweis der Identifikation mit seinem Betrieb, die ihn bald wieder nach oben bringen wird. Langfristiger Schaden resultiert aus der Denunziation der Angst, für die Schlagworte wie „Panikmache“ oder „Herrschaft der Angst“ stehen.

Angst als Werkzeug einer kühl berechnenden Politstrategie

Interessant ist die Beobachtung, dass die Angst angesichts der Pandemie in Teilen der Medienöffentlichkeit zwar pathologisiert wurde – im abwertenden Sinne gemeint –, wirklich pathologische Erscheinungen von Angst vor Infektion aber eben nicht ernst genommen wurden, weil sie nicht sein durften. So erschien in einer österreichischen Tageszeitung ein Bericht, in dem die einsetzende hygienebezogene Zwangserkrankung eines Schulkindes mit den Lockdowns und der Angstpolitik erklärt wurde – nicht aber (auch) mit der zu geringen Wirksamkeit von nur halbherzigen Maßnahmen, deren Folgen einer krankhaften Paranoia recht geben.

Während der Pandemie muss Angst als Werkzeug der Politik dort kritisiert werden, wo es nur ein Ersatz für eine kühl-technische Strategie der Eindämmung ist. Angst ist natürlich ein wesentliches Mittel der rechten Agitation, und ihr Schüren war am Hochkochen des anti-asiatischen Rassismus zu Beginn der Pandemie nicht unbeteiligt. Doch teilweise konnte es einem so vorkommen, als ob das zugrundeliegende Gefühl selbst – in einem Aufwasch mit dem Mittel – als etwas genuin Rechtes angesehen würde. Als ob die sturen Maskenträger in Zeiten niedriger Inzidenz als die wahren Autoritären erkannt würden. Das ist praktisch. Denn so ergibt sich durch die Front gegen die Panikmache gemeinsam mit den Rechtsextremen, die wie niemand sonst in der Pandemie furchtlos auftreten, ein breiteres Bündnis gegen diesen „Autoritarismus“.

Das Aufheben der Maßnahmen erscheint so als Widerstandsakt. Menschen, die im Privaten der Sorglosigkeit noch widerstehen, werden von herrschaftstreuen Psycholog*innen mit dem „Cave Syndrom“ diagnostiziert – einer angeblich irrationalen Angst angesichts der Öffnungen.

Zumindest die mentale Gesundheit von Wirtschaftskammerfunktionär*innen und Industriellen dürfte sich durch solche Zuschreibungen deutlich verbessern.

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