Orlando: Ein Versuch passende Begriffe zu finden

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By Sebastian Reinfeldt

49 Besucherinnen und Besucher eines Clubs der LGBTQ‬-Community in Orlando wurden erschossen. 53 verletzt. Was wir bisher wissen: Der Täter ließ sich offenbar vom Islamismus inspirieren, sein Hass galt der schwulen Szene, er schoß auf die Abweichenden von all dem, was er für normal und anständig hielt. Der IS hat erst im Nachhinein diese Tat für sich reklamiert, der Täter Omar Mateenhat hat wohl auf eigene Rechnung getötet. Nach einem Post auf Facebook, in der ich dieses Attentat als religiös motiviert bezeichnet hatte, entspannte sich eine lebendige Diskussion, in der bestritten wurde, dass es sich um eine genuin religiöse Tat gehandelt habe (denn die IS-Anführer seien machtpolitisch motiviert und würden die Sprache der Religion nur zur Manipulation einsetzen). Außerdem wurde kritisiert, dass persönliche Betroffenheit in erster Linie entstehe, wenn im Westen Menschen stürben. Die vielen Moslems, die durch Anschläge des IS und im IS-Krieg in Syrien und dem Irak ums Leben kommen, würden hier in Europa nicht genügend betrauert. Da ich den Eindruck habe, dass ich mich nicht ausreichend präzise ausgedrückt habe, will ich nochmals versuchen, passende Begriffe zu finden.

Beginnen möchte ich mit meiner Empathie. Wenn in Paris Straßencafés angegriffen werden, dann stelle ich mir vor, ich hätte da sitzen können. Denn ich mag in Straßencafes sitzen, reden, schauen, ich mag das Leben genießen. Dasselbe gilt für ein Straßencafé in Bagdad oder in Jakarta. Wenn ein Rockkonzert mit Waffen gestürmt wird, dann kann ich mich an die Stelle der Besucherinnen und Besucher hinein versetzen, denn ich gehe gerne auf Konzerte. Wenn in einer Zeitungsredaktion einer kritischen Zeitschrift die dort Arbeitenden hingerichtet werden, dann könnte ich auch dort arbeiten, denn die Freiheit des Wortes und Bildes ist mir wertvoll. Außerdem schreibe ich gerne. Und auch in einem Schwulen-Club kann ich verkehren, wenn meine Freunde mich dorthin einladen. Cafes, Konzerte, Clubs, Zeitungen – das gehört zu einer Lebensweise, die mir etwas bedeutet. Auch wenn ich nicht jede Woche gehe, ist es mir viel wert, dass wir jederzeit die Freiheit und Möglichkeit haben, das zu tun.

Eine permanente, einseitige Kriegserklärung

Deshalb verstehe ich die Anschläge und Attacken als einen Angriff auf konkrete Menschen und auf eine Lebensweise. Es soll keine Freiheit jenseits der – religiös begründeten – Grenzen geben. In einem Islamistischen Staat wäre ich schon längst tot, genauso und aus ähnlichen Gründen wie diejenigen Menschen, die vom IS in ihrem Machtbereich getötet und hingerichtet werden. Was dabei stattfindet, ist eine einseitige Kriegserklärung, bei der mein gesamter Freundeskreis virtuell auf der Todesliste steht. Inklusive meiner Kinder und Lieben, inklusive aller JüdInnen, Moslems und Muslimas. So verstehe ich die Taten, und ich bin davon überzeugt, dass sie genau so gemeint sind: Wir – alle diejenigen, die nicht in dieses religiös geprägte Lebensschema passen – sollen zur Hölle fahren; die Täter wiederum wähnen sich im Paradies.

Als Motivation zur Handlung ist doch die konkrete Religion des Täter wichtig. Das kann – wie im Falle Breivigs – eine faschistische Privatreligion sein, in der sich der faschistische Mann zur besonderen Gewalt gegen alles Fremde und Andere berufen fühlt. Sein Faschismus kann ja nicht einfach nur als eine Deckerzählung aufgefasst werden, um seine Mordlust zu kaschieren. Wer dies dennoch glaubt, kann ja seinen Rechtfertigungstext lesen. Oder die Interpretation von Klaus Theweleit. Die ganzen Seiten wären nicht der Mühe wert, wenn es nur ums Töten ginge.

Im Todesstream

Es ist nicht nur ein begrifflicher Fehler, sondern auch ein moralischer, wenn wir jede dieser Taten mit demselben Erklärschema (weg-)erklären. Moralisch ist es falsch, weil wir die Opfer damit ent-individualisieren, denn sie werden in einen monotonen Stream unifomer Opfer gleicher Taten eingereiht. Das ist aber die Täterlogik. Für mich sind sie einzelne Personen, die ein unverwechselbares Leben hatten, ein Leben, das von anderen aus Gründen gewaltsam beendet worden ist. Diejenigen, die das tun, würden dich und mich und irgendjemand anderen in diesen Todes-Stream einreihen, wenn wir das tun, woran wir Freude haben oder, was uns wichtig ist.

Der begriffliche Fehler liegt darin, dass  der Wahllosigkeit der Opfer eben nicht die Wahllosigkeit der persönlichen Handlungsmotive entsprechen kann. Wenn in unserer Wahrnehmung alle Ermordeten nur deshalb tot sind, weil irgendjemand an irgendetwas glaubt, und aus diesem beliebigen Glauben heraus tötet, dann zählen wir nurmehr Tote, die gleichsam zu Nummern werden, und wir haben alle Werkzeuge aus den Händen gegeben, mit deren Hilfe wir differenzieren könnten. Ich will es an einem Beispiel aufzeigen: Der Katholizismus hatte und hat antisemitische Strömungen. Aus der Interpretation einer Stelle des Paulusbriefes können wir einen antisemitischen Aufruf heraus lesen, was auch oft genug getan wurde. Dennoch wurden katholische Priester von Nazis in KZs geworfen, weil sie Widerstand geleistet haben. Sie haben als Katholiken solidarisch gehandelt. Nun macht es keinen Sinn zu behaupten, für das eine – den Antisemitismus – wie für das andere – den Widerstand – sei der Katholizismus nur Schall und Rauch gewesen. Nur wenn wir die Motive Ernst nehmen, haben wir überhaupt die Möglichkeit. konkrete Taten auch zu begreifen, zu verarbeiten und mit ihnen weiterzuleben. Mit weiterleben meine ich, politisch weiter zu kämpfen.

„Der“ Islam erklärt die Taten sicher nicht. Ein bestimmter Islam aber schon. Und es ist ums Verrecken wichtig, die Verbindungslinien von dem einen zu dem anderen aufzuzeigen. Denn, um in meinem Vergleich zu bleiben, einen antisemitischen Papst gibt es heutzutage nicht mehr, was ich als sehr wohltuend empfinde. Weil differenziert wurde, und weil Katholiken begriffen haben, dass ein antisemitischer katholischer Würdenträger ein Problem für den Katholizisus generell darstellt.

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