AMS-Kurse: Wir sind die Superspreader, die niemand sehen will

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By Sebastian Reinfeldt

Leben wir alle tagsüber in einem Lockdown – oder doch nicht? Für einige lautet die Antwort: ja, für andere: nein. Für Menschen, die arbeiten fahren müssen, hat sich seit Dienstag dieser Woche nämlich wenig geändert. Sie sind weiterhin Ansteckungsrisiken ausgesetzt. Das gilt für die Erwachsenenbildung. Dort sitzen Menschen stundenlang in einem geschlossenen Raum, der mal kleiner, mal größer ist. Sie lernen miteinander, sie reden miteinander, sie agieren. So ist das halt in einem Kurs. In der Lockdown-Verordnung wird dieser Bereich explizit ausgenommen. Das bedeutet etwa, dass es in AMS-Deutschkursen immer noch Präsenzpflicht gibt. Diejenigen, die lernen, und diejenigen, die unterrichten, müssen weiterhin körperlich in einem Raum anwesend sein. Nun regt sich bei den Unterrichtenden Unmut. Eine Trainerin hat in einem Brief an die Regierung formuliert: „Bei Unprivilegierten wie uns und unseren Teilnehmer*innen wird das Virus krasse Blüten treiben. “ Eine Recherche von Sebastian Reinfeldt.


Was verordnet die Verordnung?

Zwar heißt es im § 13. im ersten Satz der aktuell gültigen COVID-Schutzverordnung unmissverständlich:

Veranstaltungen sind untersagt

Doch definiert die Ziffer 6 einige Ausnahmen, unter die auch die Erwachsenenbildung fällt:

Von Abs. 1 ausgenommen sind Zusammenkünfte zu erforderlichen beruflichen Aus- und Fortbildungszwecken, zur Erfüllung von erforderlichen Integrationsmaßnahmen nach dem Integrationsgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017, zur Vorbereitung und Durchführung von Fahraus- und weiterbildungen sowie zu allgemeinen Fahrprüfungen und zu beruflichen Abschlussprüfungen.

Bei solchen Veranstaltungen sollte ein Abstand von mindestens einem Meter eingehalten und eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende und eng anliegende mechanische Schutzvorrichtung getragen werden. Ist dies nicht möglich, so schließt der Absatz der Verordnung mit den Worten: So ist

durch sonstige geeignete Schutzmaßnahmen das Infektionsrisiko zu minimieren.

Die Präsenz ist wichtig

In einem Tweet kündigte AMS-Chef Johannes Kopf daher am 1. November 2020 erfreut an:

Tweet Johannes Kopf vom 1. November 202

 

 

 

 

 

 

 


Bereits in den Kommentaren dazu wird angemerkt, dass die Präsenzpflicht vielleicht doch nicht eine so gute Idee ist. Denn, wie gesagt, finden diese Schulungsmaßnahmen mitunter in kleinen Räumlichkeiten statt. Da es sich um Kurse handelt, zu denen die Betroffenen unter Androhung von Sanktionen hingehen müssen, sind die Teilnehmenden und die Lernenden somit einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt.

Warum im Falle von Erwachsenenbildung nicht auf Tele-Lernen umgestellt wird, ist erstmal nicht einleuchtend. Außer, dass die Institute sich und die Beschäftigten darauf nicht vorbereitet haben.

Regelungen im Fall von Infektionen für AMS-Kurse sind widersprüchlich

Wenn es also einen Infektionsfall in einer Lerngruppe von maximal 12 Personen gibt, dann sollen die Kursinstitute sofort auf Tele-Learning umstellen, das behauptete vor 2 Wochen jedenfalls das AMS auf Semiosis-Nachfrage. Zitat:

Positiv Getestete und Verdachtsfälle werden isoliert und bleiben dem Unterricht fern. Alle Personen einer Deutschlerngruppe gelten als Kontaktpersonen der Stufe 1. Daher müssen die Institute die Betroffenen auf Tele-Learning umstellen, bis keine Gefahr mehr bestehe

Allerdings widerspricht sich das AMS damit selbst. Wie unsere Recherchen mittlerweile ergeben haben, heißt es in einer entsprechenden Empfehlung des Wiener AMS an die Kursinstitute ausdrücklich, dass als Kontaktpersonen der Kategorie 1 nur diejenigen gelten, die weniger als 2 Meter Abstand  von Infizierten im Kurshatten. Das sind in bei normaler Bestuhlung die direkten Sitznachbar*innen rechts und links. In einem solchen Fall hat das Institut den Kurs mit einem Minus von drei Personen (Patient*in 0 plus zwei Kontakpersonen Kategorie 1 im Umkreis von 2 Metern) normal weiter zu führen. Das scheint so auch die allgemeine Praxis zu sein.

Auszug aus dem Schreiben des AMS Wien an die Kursinstitute

 


Was im Sommer 2020 bei geringeren Infektionszahlen vielleicht argumentierbar war, ist es im Herbst angesichts rasant steigender Zahlen nicht mehr. Das meint jedenfalls eine Deutsch-Trainerin, die Deutsch als Zweitsprache in einem beauftragten Kursinstitut unterrichtet. Sie will das so nicht akzeptieren und schreibt in einem Brief an die Regierung, der Semiosis vorliegt:

Es ist der gefährdetste Teil der Bevölkerung, der nicht geschützt wird. Das Virus darf sich freuen, denn die Kinder unseres Klientels gehen in Kindergärten und Schulen. Die Gesellschaft wird sich nicht abschotten können. Wir sind die Superspreader, die niemand sehen will.

Ich bin sehr betroffen, dass ausgerechnet Brutstätten mit den schlechtesten Hygienekonzepten offen bleiben. Eine Kollegin schrieb mir heute: „Es ist wirklich arg, uns weiterhin zu gefährden. Ich denke, ein so schlampiger Lockdown wird gar nichts bringen außer Schaden für die Wirtschaft. Bei Unprivilegierten wie uns und unseren Teilnehmer*innen wird das Virus krasse Blüten treiben“.

Verantwortungslosigkeit in einer typischen Hire-and-Fire Branche

In dem Brieftext werden überdies die Arbeitsbedingungen der Betroffenen schonungslos angesprochen.

Die Geschäftsleitung motiviert uns per E-Mail mit dem Apell, dass wir zusammenhalten müssen. Dabei wissen wir, dass dieser Zusammenhalt nur bis zur nächsten Kündigungswelle Gültigkeit haben wird. Unser Lehrkörper wurde, während Fallzahlen explodieren, von ca. 40 auf 128 Personen aufgestockt. Entsprechend dazu wurden kleine Unterrichtsräume vollgeräumt, um Teilnehmer*innenzahlen verdoppeln zu können. Die nächste Kündigungswelle kommt gewiss, spätestens im Februar nächsten Jahres, wenn dieses „Schwarmprojekt“ des AMS auslaufen wird. Wir sind nur eines der vielen Institute, die derzeit händeringend nach Deutschtrainer*innen suchen

Niemand hat im Frühjahr 2020 für die Menschen geklatscht, die in den Kursen arbeiten und dabei täglich ihre Gesundheit riskieren. Das AMS hat bis 23. Oktober 2020 mehr als 70 Infektionsfälle in seinen Kursen registriert. Das ist vergleichsweise wenig. Es scheint mehr als fraglich, dass unter diesen Bedingungen die Infektionsraten so niedrig bleiben werden.


Der offene Brief liegt der Redaktion im Original vor. Auch ist die Verfasserin bekannt.

3 Gedanken zu „AMS-Kurse: Wir sind die Superspreader, die niemand sehen will“

  1. Super Recherche! Ich bin Lehrender in dieser Sparte und kann es nur bestätigen. Intern ist das auch ein Tabu Thema und die AMS Richtlinien werden umgesetzt…weil wir natürlich auch froh sind einen Job zu haben….,aber die Gefahr ist so groß…und fahrlässig….Es gibt auch Kurse, die auf Randgruppen ausgerichtet sind, die es mit der Hygiene allgemein nicht so haben….Inhaltsauftrag des Kurses: Unterstütztung bei der Findung einer geeigneten Arbeit. Anwesenheit ist Pflicht,sonst könnte auch eine Sanktion folgen. Distance learning nicht möglich, weil die Teilnehmer meist Sozialhilfeempfänger sind und kein Now How haben. Max. Wertkarte ohne Guthaben. Oder die vielen Jugendbeschäftigungs Projekte,die im Auftrag des AMS stehen, kann man es sich nur denken.

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  2. Vielen Dank an Sebastian Reinfeldt für die Recherche und den gelungenen Bericht. Beim Lesen des Artikels standen mir die Haare zu Berge! Unfassbar, dass das AMS in Zeiten steigender Infektionszahlen immer noch auf Präsenzunterricht in den Kursen besteht! Das ist nicht nur grob fahrlässig und verantwortungslos, das grenzt beinahe schon an vorsätzlicher Körperverletzung. Auf diese Weise wird man das Virus wohl kaum eindämmen können. Was bin ich froh, dass ich in dieser Branche nicht mehr arbeiten muss und mit diesen Kursen nichts mehr zu tun habe! Eine erhebliche Gesundheitsgefährdung dieser Art sollte niemand hinnehmen müssen. Weder die Trainer*innen noch die Teilnehmer*innen sollten sich das gefallen lassen! Ich würde eine Petition an die Adresse der Bundesregierung (Bundeskanzler Kurz, Bundesminister Anschober) starten und von allen unterzeichnen lassen.

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  3. Eine kleine, aber wichtige Ergänzung: Es gibt auch Kurse wie Basisbildungskurse, Kurse zur Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss. Überwiegend werden sie in Wien nicht von privaten Instituten, sondern Vereine und der VHS durchgeführt. Die Träger*innen bekommen keine Förderung des AMS, aber in manchen können ihre Teilnehmer*innen DLU beziehen. Derzeit können diese Kurse – wenn die Vorsichtsmaßnahmen gegeben sind – Präsenzunterricht durchführen. (Anders als beim ersten Lockdown) -aus eigener Anschaung weiß ich, dass es Sicherheitsmaßnahmen gibt, Trennwände aus Plexiglas, Räume in denen der Abstand möglich ist einzuhalten usw. und ich bin über jeden Tag froh, in dem das möglich ist. Die Teilnehmer*innen dieser Kurse haben nur in Einzelfällen die technische Ausrüstung, um sich über eine Lernplattform (diese gibt es) in vollem Umfang zu beteiligen, die meisten haben nur ein Handy und kein Notebook, selten nur einen Lernplatz zu Hause, viele von ihnen haben generell wenig Erfahung im alleine lernen, nicht wenige sind traumatisiert. Im Lockdown 1 wurde unterrichtet am Telefon, mit Postsendungen, Lernplattform usw. und dennoch waren die Lernfortschritte gebremst und v.a. bei den Jugendlichen haben sich psychische Schwierigkeiten dramatisch verschärft. Wenn wir die Bindung und den Raum, der durch Präsenzunterricht ermöglicht wird, wieder beschränken, wird das Arbeiten wieder zermürbend und belastend und wir „verlieren“ Teilnehmer*innen. AMS Kurs ist nicht gleich AMS Kurs – ich arbeite z.B. in einem vom Bildungsministerium, esf und Stadt Wien geförderten Angebot, da unsere Teilnehmer*innen aber größtenteils DLU beziehen, werden diese hier so scharf kritisierten Regeln übernommen, für meine Arbeit haben sie aber zuletzt gute Möglichkeiten eröffnet – definitiv besser als beim ersten Lockdown.

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