Londoner Börse bejubelt Brexit. Oder: Warum Kurs-Charts für politische Analysen völlig ungeeignet sind.

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By Christoph Ulbrich

Der Brexit ist knapp 4 Wochen her. Unmittelbare Folge des Britischen Votums war ein vermeintlicher Börsencrash. Die Medien überschlugen sich mit Horrormeldungen. Dem ORF waren die Börsenkurse Breaking News auf der Frontpage wert. Das Wirtschaftsblatt berichtet von der Vernichtung von 5.000 Milliarden Dollar.

Politische Kommentatoren nutzten Börsencharts, um die falsche Entscheidung der Briten zu illustrieren. Falter-Chefredakteur Florian Klenk twitterte gleich zwei Mal. Wir haben schon vor 3 Wochen aufgezeigt, dass die Darstellung damals manipulativ war. Eine weitere Börsenbeobachtung und Analyse von Christoph Ulbrich.


Was vor 3 Wochen nicht stimmte, stimmt heute noch viel weniger

Das Brexit-Votum ist knapp 4 Wochen her. Der wichtigste Börsenindex Großbritanniens, der FTSE-100, hat den kurzen Einbruch nach dem Votum längst aufgeholt und in den letzten Tagen einen neuen Jahreshöchststand erreicht. Er liegt heute 10% höher als vor einem Monat, bzw. 5% höher als unmittelbar vor dem Brexit. Oder 20% über dem Jahrestiefststand im Februar. Auch die übrigen Europäischen Aktienindices wie der DAX stehen wieder dort, wo sie vor dem Brexit waren.

Fazit 4 Wochen nach dem Brexit-Referendum: Die 5.000 Milliarden Dollar, die das Referendum angeblich vernichtet hat, sind wieder da! Der Börsencrash ist vergessen. Breaking News und alarmierte Tweets gibt es dazu keine. In Wirklichkeit sind die wahren mittel- und langfristigen Folgen des Brexit nämlich überhaupt nicht abschätzbar.

Auch Eva Glawischnig greift zum Kurs-Chart

Die Grüne Bundessprecherin Eva Glawischnig greift in einem Facebook-Posting ebenfalls zu dramatischen Worten. Die Entscheidung Großbritanniens für den EU-Austritt werde, so Glawischnig, schwerwiegende Folgen für die Menschen haben. Die Hoffnung auf Überwindung der Wirtschaftskrise werde damit weniger. Und auch Glawischnig illustriert ihre Einschätzung mit einem Kurs-Chart des Britischen Pfund.

Völlig offen lässt Glawischnig allerdings, warum eine Abwertung des Pfunds schlecht für die Menschen bzw. die britische Wirtschaft sein sollte. Zumindest teilweise ist ein schwaches Pfund nämlich – wie die Süddeutsche Zeitung richtig analysiert – durchaus positiv für Großbritannien. Der Tourismus profitiert, ebenso wie die Pharma-Industrie und Energiekonzerne wie BP. Der Firmenchef des mittelständischen Fahrradherstellers Brompton sagt der SZ: „Ein schwaches Pfund hilft uns enorm“. Ein schwaches Pfund als negativ für ein Land darzustellen, ist also völlig verkürzt. Der österreichische Fondsmanager Alois Wögerbauer drückt das laut WirtschaftsBlatt so aus: „Das Dramatisieren einer schwachen Währung ist oberflächlich und rational falsch“.

Die wirklich politisch relevanten Charts

Um eine Antworten auf die Frage nach dem Warum für den Brexit zu bekommen, kann der Blick auf Charts dabei durchaus hilfreich sein. Allerdings müssten das andere Charts als Börsenindices und Wechselkurse sein, die der absoluten Mehrheit der Bevölkerung völlig egal sind.

Wir haben drei Charts herausgesucht die vielleicht eine Antwort darauf geben, warum 52% der Briten wohl nicht die Erfahrung gemacht habe, dass die bisherige EU-Mitgliedschaft Großbritanniens gut für sie wäre:
Das erste Chart zeigt, dass in Großbritannien – trotz EU-Migliedschaft – die Reallöhne seit 2008 praktisch permanent gesunken sind.

Entwicklung der Reallöhne in GB seit 2007.

Das zweite Chart zeigt, dass seit 2008 die Kinderarmut in Großbritannien deutlich gestiegen ist.

Entwicklung Kinderarmut in GB seit 2005. Quelle: Independent.co.uk

Das dritte Chart zeigt, dass sich die Zahl der für ArbeitnehmerInnen extrem präkeren Null-Stunden-Verträge seit 2008 – trotz EU-Mitgliedschaft – vervierfacht hat.

Zahl der Zero-Hour-Contracts in GB seit 2000

Diese drei Charts erklären vielleicht, warum mehr als die Hälfte der Briten in einer EU-Mitgliedschaft keinen Vorteil gesehen haben. Ganz einfach, weil die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft bei ihnen nie angekommen sind. Obwohl die Londoner Börse in gleichen Zeitaum zugelegt und 2015 ein neues Allzeithoch erreicht hat.