Erdogan putscht gegen seinen Staatsapparat – Der organisierte Mob wütetet auf den Straßen *Update

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By Sebastian Reinfeldt

Was ist also in der Nacht von Freitag auf Samstag – und in den Wochen zuvor – in der Türkei passiert? Was geht da in diesen Tagen genau vor sich? Diese Fragen beschäftigen all jene Menschen, die die politischen Vorgänge in der Türkei verstehen und einordnen möchten. Besonders erschreckend dabei ist, was derzeit in den Straßen und auf den Plätzen der Türkei vor sich geht. Sebastian Reinfeldt hat dazu einige Augenzeugenberichte  aus Istanbul gesammelt.


Keine False-flag Operation!

Die Annahme einer sogenannten „False-flag Operation“ kann man mittlerweile ausschließen, dafür sind auf beiden Seiten zu viele Menschen gestorben. Vielmehr schaut es so aus, als ob die Erdogan-Administration schlicht von dem bevorstehenden Putsch wusste. Wie einige Medien berichten, war der versuchte Putsch doch nicht von einer kleinen, entschlossenen Minderheit vorbereitet worden, vielmehr reichte die Gruppe der Verschwörer bis in die unmittelbare Umgebung Erdogans. Es spielte sich ein Wettlauf mit der Zeit ab: Um der drohenden Entmachtung und Säuberung zuvor zu kommen, haben die Militärs schnell und – wie wir nunmehr erkennen können – letztlich überhastet gehandelt. Als sich der Präsident in der Putschnacht in seiner Präsidentenmaschine auf dem Weg nach Istanbul befand, hätte er von zwei Kampfjets der Putschisten in der Luft abgeschossen werden können. Die Piloten hatten den Finger bereits am Abzug, haben aber nicht abgedrückt. Die im Vergleich weitaus besser vorbereiteten Aktionen der türkischen Regierung umfassen die Entlassung von RichterInnen und PolizistInnen, Säuberungen im Staatsapparat. Rund 50.000 bis 52.000 Personen sind mittlerweile betroffen, die Zahlen schnellen stündlich nach oben:

RichterInnen/StaatsanwältInnen: zirka 2800
Öffentlicher Dienst: 1500
Beamte im Innenministerium: rund 8777
Bildungsministerium: 15.200 ( plus 21.000 LehrerInnenn, denen die Lizenz entzogen wurde)
Religionsministerium: rund 500
Beamte im Büro des Ministerpräsidenten: 257 (Zahlen nach https://www.facebook.com/bagimsiziletisimagi/ und eigene Recherche)

Weiterhin wird über die Einführung der Todesstrafe diskutiert, jedwede politische und publizistische Opposition wird unterdrückt. 24 Radio- und Fernsehsendern wurde die Sendelizenz entzogen. All das lässt den Schluss zu, dass in diesen Tagen auf den gescheiterten Putsch ein (geplanter) Gegenputsch erfolgt. Und die Welt schaut zu, wie die kümmerlichen Reste der Demokratie in der Türkei beseitigt werden, und wie sich ein autoritäres Regime ausbreitet.

Der organisierte Mob auf den Straßen

Direkt nach Bekanntwerden des Putsches gab es nicht nur das berühmte Facebook-Video Erdogans, in dem er die Menschen auf die Straßen rief. Sondern auch die Regierungspartei AKP mobilisierte, und zwar zusammen mit dem türkischen Geheimdienst und in IS-Camps ausgebildeten Jihadisten der IBDA-C gegen die aufständischen Soldaten. Die nachgewiesene Beteiligung der türkischen Jihadisten Front der Vorkämpfer für den Islamischen Großen Osten (eine islamistische Terrororganisation) ist besonders bemerkenswert und erschreckend. Das Szenario, hier das Volk, dort das Militär, ist offenbar eine mediale Inszenierung, die deshalb live übertragen wurde (was unter dem Erdogan-Regime ansonsten absolut unüblich ist). Entgegen dieser inszenierten Frontstellung war es wohl eher umgekehrt, denn die Soldaten, die man in der Türkei jetzt inhaftiert, schlägt und tötet, das sind die normalen und einfachen Menschen. Gegen sie ist derzeit ein rasender, aber von staatlichen Stellen organisierter Mob auf den Straßen unterwegs.

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Staatliche Mobilisierungs-SMS

Die Leute, die jetzt auf den Straßen sind, sind hasserfüllte Männer (ich habe weder Kinder noch Frauen gesehen), die voller Verachtung sind und wild auf die Soldaten eindreschen, die keine höhere Bildung haben, oftmals Kinder aus armen Elternhäusern sind, die einfach taten, was ihnen die Kommandeure befohlen haben. Die sind höchsten 18 bis 22 Jahre alt.

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Die Instanbuler Stadtverwaltung fordert per SMS dazu auf, sich an den Versammlungen auf den Straßen und Plätzen zu beteiligen.

Ich selber habe zwei SMS, eine der türkischen Regierung, eine andere der Istanbuler Stadtverwaltung erhalten, die mich dazu aufrufen, auf die Straßen zu gehen und den „Willen des Volkes gegen die Attacken auf die Demokratie“ zu beschützen – und auf den Straßen zu kämpfen.

Das Ganze ist außer Kontrolle geraten und wir haben Angst. In diesem Land möchte ich nicht mehr leben.

Staatliche Stellen stacheln also einen – teils organisierten, teils spontan handelnden – Mob auf, der dann auf den Straßen der Großstädte Angst und Schrecken verbreitet. Während ich gestern mit meinen Bekannten gesprochen habe – eine von ihnen ist wie ich Politikwissenschaftlerin – kam die Nachricht der Ermordung des Vizebürgermeisters des Istanbuler Bezirks Sisli, Cemil Candas. Da Sisli ein jüdisches Viertel ist, wurde darüber spekuliert, dass er selber Jude ist – was nicht der Fall ist. Candas gehört der oppositionellen CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) an, einer kemalistischen und sozialdemokratischen Partei, die den Putsch – wie alle oppositionellen Parteien – verurteilt hatte. Es reicht aber, in einer Oppositionspartei zu sein, um um Leib und Leben fürchten zu müssen: Die

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Auf Facebook wurde der Link zur Ermordung des Politikers entfernt.

beiden Täter sind in das Büro des Vizebürgermeisters von Sisli gekommen, und haben ihn förmlich hingerichtet – mit Kopfschüssen. Interessant, und bezeichnend für die politische Situation in der Türkei, ist, dass der Tweet einer unabhängigen türkischen Nachrichtenagentur, in dem der Tod von Cendas publiziert wurde, auf Facebook mittlerweile blockiert worden ist.

Ich bin sprachlos darüber, was da vor sich geht. Die Leute sind wie durchgedrehte Roboter, die bereit sind loszuschlagen und zu tun, was ihnen ihr Präsident sagt.

Ich habe sogar gehört dass diese bösartigen Kreaturen nun den Menschen in Vierteln auflauern, die mehrheitlich von Aleviten bewohnt sind, um diese anzugreifen

YÖK (yükseköğretim kurulu – Der Rat für die Höhere Bildung) hat 1577 Dekane aufgefordert, zurückzutreten. 1577 Dekane von insgesamt 1640! Sie hören nicht auf.  Unter den Betroffenen der anderen Kündigungen sind Offiziere, sie entziehen Lehrerinnen und Lehrern die Lizenzen, sie feuern Beamte des Finanzministeriums, des Innen- und Familienministeriums und sogar die MitarbeiterInnen des Geheimdienstes.

zahlentürkei

 

* Die Namen meiner GesprächspartnerInnen möchte ich nicht nennen. Es ist für sie einfach zu gefährlich.

Fotocredit: Facebook-Screenshot auf: http://sendika10.org/2016/07/akpnin-demokrasi-savascilari-meger-ibda-cli-cihatcilarmis/ibda-c_istanbul_catisma_15temmuz2016-7/

 

 

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