Messias ohne Moral, Moral als Politikersatz

Foto des Autors

By Richard Schuberth

Auf der einen Seite haben wir den letzten Auftritt von Bundeskanzler Kurz als „eine fleischgewordene Unschuldsvermutung zwischen zwei gloriolenhaften Ohren“ erlebt. So kommentiert Richard Schuberth die Polit-Inszenierung am Ballhausplatz in Wien. Auf der anderen Seite ist aber auch ein genauerer Blick auf die Skandalisierung des Skandals nötig. Das Betonen seiner moralischen Dimension ruft „die nostalgische Illusion eines unkorrupten Status quo ante“ hervor. Auf beides wirft unser Autor, der Schriftsteller und Gelehrte Richard Schuberth, seinen sezierenden Blick.


Was haben die politischen Parteien Sebastian Kurz entgegenzusetzen außer dem Selbstbild höherer Integrität?

Samstag, 10. Oktober, 19.30 Uhr, ZiB 1. Wie oft erlebt man schon eine Auferstehung live mit? Leibhaftig stand er vor uns und hat sogar zu uns gesprochen. Mit leuchtend bronzenem Airbrushgesicht, wie gemalt von den größten Meistern der Gmundener Uferpromenadenschule, mit seitlich von sich gestreckten Handflächen zur besseren Sichtbarkeit der Wundmale, die sie ihm zugefügt haben, eine fleischgewordene Unschuldsvermutung zwischen zwei gloriolenhaften Ohren; ein sanfter, ein gerechter, ein verfemter Heiland, der allerdings keinen Zweifel daran ließ, dass am Jüngsten Tage, sprich, am Tag der nächsten Nationalratswahl, seine Verfolger ins Höllenfeuer hinabgestoßen würden. Gelitten unter der linken Jagdgesellschaft, verraten von Werner Ischariot mit dem giftgrünen Herzen, verleumdet von der Systempresse, gejagt von ebensolchiger Justiz, am dritten Tage auferstanden von den Totgeglaubten, aufgefahren in den Nationalrat; wo er sitzt zur Rechten Lopatkas und Sobotkas; von dort wird er über uns kommen, zu richten die Lebenden und die Toten …
Sebastian Kurz hat mit seiner Rücktrittspredigt seinen vielleicht glänzendsten Auftritt hingelegt, und keinen Trick der populistischen Wunderkiste ausgelassen, sich vom Täter zum Opfer zu transsubstantialisieren. Aus der Hüfte hat er dann durch seinen selbstlosen Schritt „zur Seite“ auch gleich noch die Nation gerettet. In die messianische Kodierung flocht er zudem das Motiv des romantischen Helden ein, der sich seiner Verfolgung durch Flucht entzieht, um aus dem Schatten heraus (konkret: dem Parlament) seine Unschuld zu beweisen, und am Ende sich mit größerem moralischem Kredit, als er je besaß, wieder in Amt und Würden zu setzen.
Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, dass ihm das auch gelingen könnte, denn schaffen es WKSTA und parlamentarische Untersuchungsausschüsse nicht, Kurz und seine Kamarilla ihrer Missetaten zu überführen, dann werden die letzten Jahre nur die Ouvertüre seiner Erfolgsstory gewesen sein, und er wird es bei den nächsten Wahlen gar nicht nötig haben, Meinungsumfragen zu fälschen.

Heute ist nicht alle Tage.

Ich komme wieder, keine Frage!

Nicht zu unterschätzen sind die Verbindungen dieses Klüngels zu Justiz und Exekutive, welche laufende Verfahren blockieren könnten, und dies auch schon nachweislich taten. Bereits Ende September hat die stellvertretende Generalsekretärin der ÖVP in einer eigens dafür einberufenen Pressekonferenz schnippisch verkündet, dass man sich eine Hausdurchsuchung ersparen könne, weil ohnehin alles gelöscht sei.
Kurz hielt kurz vor Abtauchen in den Nationalrat also eine formvollendete Wahlrede, in der er versuchte, über rechtsstaatliche Institutionen, Zivilgesellschaft und politische Gegner hinweg jene zu mobilisieren, auf die es letztlich ankommt: seine Wähler und Wählerinnen, und damit eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen, die seine Methoden der Machtübernahme vielleicht nicht für legal, aber legitim halten, und das Gerede von Inseratenkorruption, Untreue und Bestechlichkeit für die Winkelzüge eines linken Gegenputschs, dessen Rädelsführern er schlicht zu jung, zu erfolgreich, zu schön war.
Wie der tiefe Fall von Heinz-Christian Strache zeigte, wenden sich Österreicher oft nicht aus beleidigtem Rechtsempfinden, sondern Opportunismus von ihren geliebten Banditen ab. Und anderen zu. Was er und seine Boys angestellt haben, ist zwar unfassbar, dies aber leider im doppelten Sinn des Wortes. Deshalb müssen auch die Medien mindestens so manipulativ sein, wie er es war. Und die Wahrheit so arg inszenieren, wie sie ist, aber von vielen nicht empfunden wird. Oft erfährt man erst von deutschen Leitartiklern, die kein Gespür haben für alpine Relativität, wie entsetzlich die eigene politische Klasse ist, will es zunächst nicht glauben, schwimmt aber, weil man nicht zu Losern halten will, mit der Stimmungsumkehr mit. Was die Inkriminierten wirklich falsch gemacht haben sollen, davon ist man jedoch nie ganz überzeugt. Dass Wille zur Macht, Hinterfotzigkeit und Sich’s-Richten zu den gesunden Qualifikationen des politischen Gewerbes gehören, ist doch ausgemachte Sache. Verdächtig sind nur die Idealisten, weil die bloß an sich, will heißen: an ihre Ideale denken. Da Ideale, dieses elitäre Luxusprodukt, etwas sind, was nur wenige haben, gilt der Idealist, die Idealistin als besonders asozial. Währenddessen die schlauen Junggangster, die sich mit ausgefuchsten Coups und gar nicht abgehobener Chat-Diktion (Oasch, Bussi …) den Staat, diesen alten Langeweiler, kapern, unsere Allmachtsfantasien verwirklichen. Und das ist wahrlich gemeinschaftsstiftend. Dass sie dann alles dafür tun, unsere gesellschaftliche Ohnmacht mit ihrem kalten Atem bürgerlicher Rohheit festzufrieren, sehen wir diesen wirklich gut geföhnten Jungs gerne nach. Und sobald die bewunderten, aber diskreditierten Gangs ihr Personal auswechseln, ist man wieder voll dabei.
Die Aktionäre der eigenen sozialen Deklassierung setzen nun einmal gerne auf das erfolgreichste Pferd im Rennen. Ansonsten hätten gefälschte Umfragen zur Popularität politischer Kandidaten überhaupt keinen Sinn.

Die nostalgische Sehnsucht nach dem untadeligen Neoliberalismus

Kurz und seine Boys stellen die hierzulande mit Bestimmtheit ruchloseste Spielart eines autokratischen Managements neoliberaler Interessen dar, wie es den alten Rechtsstaat, so vorhanden, gerade weltweit auszuhöhlen versucht – durch Schwächung seiner Institutionen, aber auch mit den Mitteln der direkten Demokratie. Nicht uninteressant indes ist ein genauerer Blick auf die Skandalisierung des Skandals selbst.
Korruptionsskandale erfüllen in der bürgerlichen Demokratie seit ihrem Bestehen auch die Funktion, von systemischen Widersprüchen abzulenken und mit dem Anschein der demokratischen Selbstreinigung zu beschwichtigen. Darum dröhnt dieser Tage durch soziale Medien, Zeitungen und Opposition auch so penetrant das Pathos der moralische Anklage. Von Sittenbild, Abschaum und Verworfenheit ist da die Rede, Alexandra Föderl-Schmidt ächtet Kurz in der Süddeutschen Zeitung als „Mann ohne Moral“ und der vermottete Begriff der „Untadeligkeit“ wird wieder abgestaubt und ins Schaufenster des politischen Diskurses gehängt. Nicht nur lässt die Reduktion des Modells Kurz auf moralisches Fehlverhalten um die Judizierbarkeit krimineller Handlungen bangen, sondern wird damit auch die nostalgische Illusion eines unkorrupten Status quo ante heraufbeschworen (ein genaueres Studium der politischen Sittengeschichte der II. Republik würde das schnell ad absurdum führen) – mehr noch aber verschleiert die sittliche Ächtung, dass die Ächter am inhaltlichen Kern der türkisen Politik wenig auszusetzen haben. Die Stärke von Türkis ist nun mal die Schwäche von SPÖ und Grünen. Aber wenn wir von Moral sprechen, dann sollten wir uns an der eigenen Nase packen, denn wie verkommen ist eine Gesellschaft, welche die Bestechung von Medien verwerflicher findet als folgendes, zumal entzückend witziges Zitat des neuen ÖVP-Parteiobmanns?

Für junge Menschen ist Eigentum die beste Maßnahme gegen Altersarmut.

Organisierter Raub hinter skandalösen Kulissen

Zwar mag Thomas Schmids Unfähigkeit, seine Chats richtig zu löschen, ein Geschenk des Himmels sein, die Antikorruptions- und Mediengesetze des Rechtsstaats sind es nicht, sondern solide zivilisatorische Errungenschaften. Dennoch harren sie vieler Verbesserungen (wie wäre es zum Beispiel mit meinem Verbot von Parteiinseraten und der völligen Transparenz von Parteispenden?). Der Rechtsstaat besitzt zwar die Mittel, Bestechung und Untreue zu ahnden, nicht aber, den schleichenden Diebstahl an den Lebensgrundlagen der Bevölkerungsmehrheit. Ein Schelm, der das seit Bestehen des bürgerlichen Republikanismus Selbstverständliche denkt: dass er, der Rechtsstaat, zunächst – nicht nur, aber vorrangig –von Besitzenden für Besitzende gemacht wurde, und sein doch hohes Integrationsniveau hart von den Marginalisierten erkämpft werden musste. Er wurde den Menschen nicht wie die Zehn Gebote von Jahwe auf steinernen Tafeln durch die Wolken runtergereicht, und bei ihm gibt es noch viel Platz für weitere Gebote, auch wenn man uns glauben machte, er ruhe alarmgesichert und ehrfurchtgebietend in Museumsvitrinen.
Das spiegelt sich auch im vorherrschenden Rechtsempfinden wider, das sich über Korruption, Intrigen und Medienmanipulationen empört, aber den eigentlichen Skandal durchwinkt: eine „öko-soziale“ Steuerreform zum Beispiel, deren sozialer Kern darin besteht, dass sie fiskale Mehrbelastungen durch kalte Progression in Steuersenkungen umlügt. Und deren ökologischer Effekt darin, dass die größten Emittenten von CO2 wie die OMV steuerlich entlastet bleiben. All das in Komplizenschaft mit den Grünen, was nur jene schockieren mag, die in ihnen noch immer ein progressives, aber leider geknebeltes Reformobjekt sehen und nicht das, was sie sind: eine besonders bedauerliche Synergie aus Opportunismus, Planlosigkeit und Todestrieb. Kurzum: Wenn Werner Kogler eine „untadelige“ Person als Regierungspartner fordert, dann jemanden, mit dem er dieses tadelige Umverteilungsprogramm von Gnaden der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung störungsfrei auf die Schiene bringen kann.

Vor einer Götze kuschen sie alle

Aus Sicht der Grünen ist die Fortsetzung der Koalition mit der ÖVP durchaus sinnvoll. Denn nur in einer Hinsicht besteht zwischen ihnen und der Kurz-Clique eine eigentümliche Symmetrie. Kogler hofft sich durch Befreiung von Kurz vor seiner Stammwählerschaft zu rehabilitieren, Kurz in der Zwischenzeit sein messianisches Comeback als Stellvertreter des Kapitals auf Erden vorzubereiten. Objektiv ist und bleibt er die beste Besetzung dafür. Solange weder Grüne noch SPÖ gegen diesen allmächtigen, leicht erzürnbaren Gott aufbegehren – nein, gar nicht mal durch die Diktatur des Proletariats, sondern mit bescheidenerem Portefeuille: z. B. Spitzensteuersätzen wie zu Franklin D. Roosevelts Zeiten (91 Prozent), Sozialpolitik wie unter Olof Palme, dem alten Stalinisten, oder der sofortigen Abschaffung fossiler Brennstoffe –, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als von politischer Moral zu reden und mit peinlichen Imagekampagnen gegen ihre geschickteren türkisen Konkurrenten abzustinken.
Anstand ist eine recht magere Alternative zu türkiser Ausgefuchstheit. Wie wäre es mit Sachpolitik? Eine Gefahr, die Sebastian Kurz als Erster erkannte, als er sich über den Wahlerfolg der KPÖ in Graz „besorgt“ zeigte. Denn er wusste, dass nicht nur Hipster, Migranten, Tagediebe und linke Arbeiter Elke Kahr wählten (die reichten allesamt für die 28,84 Prozent gar nicht hin), sondern auch alteingesessene Kleinbürger, also Leute, die eigentlich ihn wählen sollten. Eine lokale Kuriosität vielleicht, viel belächelt, viel geächtet, doch zeigt sie deutlich, dass Wähler nicht so dumm sein müssen, wie ihre Stimmenschnorrer glauben, sondern Wahlentscheidungen aus rationalem Ermessen ihrer Interessen treffen können. Und sollte dieses Beispiel Schule machen, dann ist die ganze Messias/Leader/Schwiegersohn-Nummer ernsthaft in Gefahr – also Politik als Spektakel, als Personenkult, als Identitätsstiftung bei gleichzeitiger sozialer und politischer Übervorteilung – und mit ihr jede Partei, die aus Ermangelung populärer Initiativen auf die Populismus-Show setzte.


Richard Schuberth ist Schriftsteller und einiges anderes. Seine jüngsten Bücher: Bus nach Bingöl (Drava Verlag) und Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges (Wallstein Verlag).


Semiosis-Recherchen zum Thema

Vom Projekt Ballhausplatz nach Ibiza und wieder zurück (mit der 104-seitigen Hausdurchsuchungsanordnung und dem Projekt Ballhausplatz zum Download)

Sozialmissbrauch 🙂 (Ein Beispiel aus den 490 Seiten Ermittlungsakten)

Sebastian Kurz in dubioser Gesellschaft: Vom „Gender-Gulag“ bis zur „maoistischen Umerziehung“.

*Das Titelfoto zeigt Sebastian Kurz unmittelbar nach seiner mutmaßlichen Falschaussage im U-Ausschuss im Juni 2020. Es gilt die Unschuldsvermutung.

2 Gedanken zu „Messias ohne Moral, Moral als Politikersatz“

  1. Ich persönlich halte die Polit – Karriere des Sebasian K. in Österreich für gescheitert. Es wird sich nicht ausgehen für die ÖVP jemanden wieder als Spitze in die Wahlen zum bürgerlichen Parlament zu entsenden, der öffentlich kundgetan hat, dass ihm „sein Land“ so wichtig sei, nachdem grad alle mitlesen konnten, dass er keinen Genierer hat „ein Land“ aufzuhetzen.
    Kurzens zwar korrupten aber ausgefuchsten Kampf-Methoden, die werden aber weiterhin breit in der Werzeugkiste der rechtskonservativen VP Platz einnehmen.
    Es ist für mich logisch, dass jetzt alles daran gesetzt werden wird um den „Youngster“ trotz seines Vorlebens für die Nachfolge des Johannes Hahn aufgebaut werden wird.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar