Das dunkle Wirken obskurer Kräfte: Antisemitismus in Verschwörungserzählungen

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By Redaktion Semiosis

Es sind keine antisemitischen „Sager“ oder „Ausrutscher“. Jede Verschwörungsideologie, gleich welchen Inhalts, ist strukturell antisemitisch. So die These von Sebastian Schuller im zweiten Teil seines Interviews mit Sebastian Reinfeldt über die Szene der stramm rechten Corona-Leugner und Schwurbler. Er meint übrigens auch, dass Faktencheckerei dagegen wenig helfen würde. Eher im Gegenteil.


Wie hängen Antisemitismus und Verschwörungsmythen zusammen?

Um das zu verstehen, hilft es, sich zu fragen: Was unterscheiden denn tatsächliche Verschwörungen von den Verschwörungen in Verschwörungsmythen?
Unbestreitbar ist ja, dass es Verschwörungen gibt: Intrigen, Korruption, usw. sind, bedauerlicherweise, ein mehr oder minder verbreitetes Mittel in der Politik und in der Wirtschaft. Was diese realweltlichen Machenschaften auszeichnet, ist, dass sie in der Regel schnell rauskommen und eher ‚lokal‘ begrenzt sind. Da geht es um Bauaufträge, Ministerposten, um Mandate oder um Geld von russischen Oligarchen für Zeitungsprojekte und ähnliches. Also recht konkrete, unmittelbare und meist sehr materielle Interessen und Angelegenheiten.

Die gesamte Welt eine einzige Verschwörung

Die Verschwörungen der Verschwörungsideologien sind dagegen ungleich komplexer. Hier geht es eigentlich immer ums Ganze. Ein Beispiel: Wenn ich glaube, dass Wissenschaftler*innen und Politiker*innen sich verschworen haben, um mittels Chemtrails die Menschheit gefügig zu machen, setzt dies – zu Ende gedacht – ja extrem viel voraus: Hunderttausende von Menschen müssen involviert sein, ebenso Firmen und verschiedene staatliche Behörden. Sie alle spielen in den Visionen zusammen. Dass alle mitmachen und Stillschweigen über dieses Programm bewahren, kann dann nur bedeuten, dass im Grunde die gesamte Welt, alle Staaten, alle Regierungen und auch tausende Einzelpersonen von dieser dunklen Verschwörung im Griff gehalten werden.
Die Verschwörungserzählungen, egal um was es thematisch dabei geht, funktionieren also nur, wenn im Grunde die ganze Welt irgendwie in die Verschwörung involviert und von ihr strukturiert ist.

Hier wird sozusagen die Welt als Verschwörung erzählt.

Antisemitismus ordnet die Weltsicht

Und genau das bringt Verschwörungsideologie in ein Näheverhältnis zum Antisemitismus.
Denn Antisemitismus ist nicht einfach ’nur‘ Rassismus gegen Jüdinnen*Juden. Sondern im Antisemitismus steckt ein universalisierbares Weltbild, eine Reaktion des autoritären Subjekts auf den Kapitalismus.
Vereinfacht gesagt: Die kapitalistische Lebenswelt, also die moderne, bürgerliche Gesellschaft überfordert. Die*der Einzelne erfährt sich einerseits als frei, zum Beispiel ihre*seine Arbeitskraft überall auf der Welt verkaufen zu können. Diese Freiheit ist aber zugleich mit dem Zwang verbunden, dies auch wirklich tun zu müssen. Sonst droht Verhungern. Also realisieren sich in der Erfahrung der Individualität und Freiheit immer auch zugleich die Erfahrungen eines überindividuellen, abstrakten Zwangs, des Zwangs, der dem Kapitalismus immanent ist.

Die Sehnsucht nach einer organischen und hierarchischen Ordnung

Auf diesen Widerspruch kann unterschiedlich reagiert werden. Emanzipatorisch wäre es, ihn zu hinterfragen und Wege zu suchen, den Moment der Freiheit, der ja auch da ist, vollständig Wirklichkeit werden zu lassen. Die autoritäre, regressive Reaktion dagegen ist es, genau diesen Moment der Freiheit und mit ihm die Momente der Abstraktion abzulehnen und sich nach einer organischen, hierarchischen Ordnung zu sehnen, die als natürliche Harmonie erscheint. Dass diese Harmonie nicht herrscht, wird als eine widernatürliche Störung konzeptualisiert, die aber nicht als Folge gesellschaftliche Prozesse angesehen wird (denn dies hieße ja wieder, Gesellschaft als etwas abstraktes und nicht als etwas an sich Harmonisches zu denken), sondern als Ausdruck des Wirkens einer bösen und persönlichen Macht.

Ein dunkles Wirken obskurer Kräfte

Diese Struktur (Das Wirken einer bösen und persönlichen Macht) steht am Anfang und im Zentrum des antisemitischen Weltbildes. Es gibt nun historische Gründe, warum der Antisemitismus Jüdinnen*Juden als Zielscheibe dieser Personalisierung ausgewählt hat – dazu hat Adorno einiges gesagt. Und diese Form der Personalisierung ist auch nochmal komplizierter, als ich hier ausführen kann. Hierzu wäre etwa der berühmte Aufsatz Antisemitism and National-Socialism von Moishe Postone einschlägig.

Zentral ist indes, dass wir wissen, dass dem Antisemitismus diese Grundstruktur innewohnt, dass also die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht aus sich heraus erklärt wird, sondern stattdessen als Folge des dunklen Wirkens obskurer Kräfte wahrgenommen wird.

Antisemitismus ist ein kultureller Code geworden

Genau deswegen konnte sich schon historisch der Antisemitismus immer wieder verändern und zu einem kulturellen Code werden. Ja, diese Veränderung des antisemitischen Weltbilds schon vor 1945 und erst recht nach dem Krieg ging so weit, dass oft nicht mal mehr das Wort ‚Jude‘ verwendet werden muss(te), um den antisemitischen Gehalt deutlich zu machen.

Mehr noch: Die Figur der jüdischen Weltverschwörung im antisemitischen Bewusstsein kann durch andere Platzhalter ersetzt werden, zum Beispiel: „die Zionisten“ , „das Finanzkapital“, „die Rothschilds“, „Israel“, die „jüdische Community“ und ähnliche rhetorische Figuren. Die Struktur, die den Antisemitismus ausmacht, kann sich so immer wieder neu anpassen, neue Ausdrucksformen und neue Codes hervorbringen.

Ein aktuelles Beispiel aus den sozialen Medien. Anlass ist die (zeitweise) Weigerung der ÖVP-FPÖ Regierung in Niederösterreich, für die Pflege jüdischer Friedhöfe aufzukommen. Quelle: https://twitter.com/JulyaRabinowich/status/1637628503402205185/photo/1


Verschwörungsmythen – welcher Art auch immer – sind so eben nur Variationen dieser Struktur, die mit unterschiedlichen Mitteln die immer gleiche Geschichte eines antisemitischen Weltbildes wiederholen.

Helfen Fakten-Checks, dass diesen Erzählungen kein Glaube mehr geschenkt wird?

Den Effekt von Faktenchecks auf Verschwörungsgläubige halte ich für gering.
Es mag nun schon sein, dass manchmal Einzelpersonen nur aufgrund falscher Informationen auf irgendwelche Abwege geraten und Verschwörungsideologien zu teilen beginnen. Vermutlich kann in solchen Fällen ein Faktencheck helfen. Jedoch, wie bereits gesagt: In Verschwörungstheorien drückt sich immer ein strukturell antisemitisches Weltbild aus. Das heißt also: Wer an Verschwörungstheorien festhält, tut dies nicht, weil er über irgendein Wissen nicht verfügt, sondern weil sie:er daran glauben will. In diesen Mythen realisiert sich eine politische Haltung, ein Weltbild.

So betrachtet, können wir uns aber schon die Frage stellen, was eigentlich der Zweck der Faktencheckerei ist?

Ich glaube, es handelt sich hier um die Folge der gesellschaftlichen Entpolitisierung von Verschwörungsglauben. Dieser wird im Grunde nur funktionalistisch betrachtet, es wird also in den Debatten zu dem Thema eigentlich nur noch diskutiert, wieso Bürger*innen an solche Absurditäten glauben, welche Gruppen dafür anfällig sind, usw. Gerne wird dabei, faktenwidrig, so getan, als wären Verschwörungsideolog*innen immer die Anderen. Also: Menschen vom politischen Rand, Menschen, die mit der Komplexität der Welt überfordert sind, oder die, vielleicht wegen digitalem Analphabetismus, in irgendwelche ‚Echokammern‘ und ‚Bubbles‘ auf den sozialen Medien geraten seien. Um diese daraus herauszuholen, und wieder an den vermeintlich aufgeklärten, liberalen Diskurs anzuschließen, werden dann beispielsweise Fakten-Checks unternommen.

Verschwörungsideologien sind kein Unfall der Kommunikation

Verschwörungsideologien werden damit als Problem externalisiert – sie sind dann nicht mehr Symptom der kapitalistischen Gesellschaft, sondern nur noch ein Unfall bei der Kommunikation wissenschaftlicher Fakten. Oder, maximal, wären sie Reaktionsprodukt der psychischen Überlastung der Einzelnen. Die liberale Öffentlichkeit kann sich so beruhigt ihrer selbst vergewissern, und vermeidet, sich mit dem eigenen, regressiven Unbewussten, das sich unter anderem in Verschwörungsglauben manifestiert, zu konfrontieren.

Faktenchecks – eine liberale Verdrängungsstrategie?

Im Grunde genommen handelt es sich bei Faktenchecks also um eine ideologische Übung. Um eine, überspitzt gesagt, liberale Verdrängungsstrategie, die genau die politische Auseinandersetzung mit der Verschwörungsideologie vermeiden will.
Das ist sehr bequem: Denn, solange wir nämlich uns auf das Absurde dieser Ideologien konzentrieren, vermeiden wir es, über ihre Überschneidungen zum Beispiel mit dem politischen Mainstream bzw. dem gesellschaftlichen Konsens nachzudenken.
Ich glaube, dass eine solche Verdrängungsstrategie politisch fatal ist: Wenn wir nicht untersuchen, welche untergründigen und unbewussten Verbindungen zwischen Verschwörungsglaube und liberal-demokratischer Öffentlichkeit bestehen, können wir den zunehmend beängstigenden Entwicklungen der Gesellschaft nichts entgegensetzen. Denn, wie die letzten Jahre und im deutschen Kontext das Beispiel Querdenken und im österreichischen Kontext das Fairdenken gezeigt hat: Die Verschwörungsideolog*innen setzen sich am Ende durch.


Zur Person

Sebastian Schuller ist Literaturwissenschaftler und freier Autor. Seit seiner Promotion zum Zusammenhang von Gegenwartskultur und Kapitalismus (Realismus des Kapitals, Fink 2021) befasst sich Schuller mit Verschwörungssubkulturen und aktuellen Formen des Antisemitismus. Ein Teilergebnis seiner Forschungsarbeit wird 2023 im assemblage-Verlag unter dem Titel Die Freiheit, die sie meinen erscheinen. Wer mehr von Sebastian Schuller lesen möchte, kann ihm auf substack folgen und/oder seine Arbeit auf patreon unterstützen.

Titelbild: Aus dem Telegramkanal von Fairdenken. Quelle: https://twitter.com/MichaelBonvalot/status/1637080753941954562?s=20


Zum Weiterlesen

Interview mit Werner Reisinger Corona-Leugner: Für die meisten ist Corona nur der Rahmen, in dem sich ihre Wut artikuliert

Teil eins des Interviews mit Sebastian Schuller

1 Gedanke zu „Das dunkle Wirken obskurer Kräfte: Antisemitismus in Verschwörungserzählungen“

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