Die Lücke der Aufklärung stopfen – Citizen-Journalismus in Zeiten der Pandemie

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By Sebastian Reinfeldt

Täglich wenden sie mehrere Stunden für Recherchen auf. Ihre Kanäle sind in erster Linie Twitter und Blogs. Soziale Medien also. Dort korrigieren sie falsche Aussagen aus der Politik und öffentlicher Expert*innen und liefern Hintergrundinfos, indem sie Studien und Wissenschaftsartikel in eine verständliche Sprache übersetzen: Sie werden Citizen-Journalist*innen genannt. Als solche machen sie eine Arbeit, die die etablierten Medien nicht leisten.

Semiosis, ein Blog, der sich selbst zu diesem Genre zählt, hat mit zwei mittlerweile prominenten Vertreter*innen des Citizen Journalismus in Österreich gesprochen: Felix W. und die Twitter-Nutzerin Shirley. Beide sind in Zeiten der Pandemie bekannt geworden, weil sie sich faktenkundig eingemischt haben. Shirley möchte aus beruflichen Gründen anonym bleiben, was wir respektieren. Wir präsentieren hier einen Überblick über ihre Motive, geben Einblicke in ihre Arbeitsweisen und Netzwerke und geben wider, was sie an der Pandemie-Berichterstattung der etablierten Medien falsch finden. Die Interviews mit beiden sind zudem in voller Länge und ungekürzt verlinkt. Von Sebastian Reinfeldt


Was ist Citizen-Journalismus?

Bereits bei der Übersetzung des englischen Ausdrucks Citizen Journalism hapert es. Bürger-Journalismus? Graswurzel-Journalismus? Beides klingt seltsam und falsch. Diese Form des Journalismus sei engagiert und daher subjektiv, wird ihm gerne zugeschrieben – als Entgegensetzung zum angeblich neutralen und interessenlosen Journalismus der Profis. Die ist aber Quatsch. Also ob die in Österreich auflagenstärkste Kronen-Zeitung nicht auch Emotionen einsetzen würde und sich (partei-)politisch engagieren würde? Auch hinter dem Falter, um ein alternatives Beispiel zu nennen, stehen Financiers, die Interessen haben.

Das Versagen der einen bedingt das Auftauchen der anderen

Tatsächlich stimmt das Gegenteil dieser Zuschreibung. Denn mit Beginn der Pandemie haben Citizen-Journalist*innen nicht nur Studien und Aussagen aus der Wissenschaft in verständliche Sprache übersetzt. Sie haben sich auch (vergeblich) dafür eingesetzt, dass die Politik auf die Wissenschaft hört. In der Zivilgesellschaft klingt die Stimme der Vernunft, während die Politik in erster Linie PR-Strategien fährt, in die sie die etablierten Medien einbinden. Diese leisten dabei, spürbar jedenfalls, kaum Widerstand. Deshalb hat sich diese Form des Journalismus in den vergangenen Monaten in Österreich so rasant entwickelt: Weil die etablierten Medien in Österreich – vom ORF bis hin zum Falter – in Zeiten der Pandemie kläglich versagt haben. Was einige Journos sogar selbst so sehen:



Ihre Methode: Sammeln und Aufbereiten von Daten und Fakten und permanente Faktenchecks

Wie arbeitet Citizen-Journalismus? Im Fall der Pandemie-Berichterstattung mit einer Mischung aus wissenschaftlichem Vorgehen und schlichtem journalistischen Handwerkszeug. Im Kern sammeln sie Daten und Fakten und bereiten diese auf.

Shirley: Ich habe Themen recherchiert und auf Twitter kommuniziert, die von Medien gar nicht, oberflächlich und vielfach sogar völlig irreführend berichtet wurden. Vor der Pandemie habe ich mich vor allem gegen Rechtsextremismus engagiert. Viele Faktencheck-Methoden konnte ich auch gut gegen die Desinformation im Zuge der Pandemie nützen.

Felix: Ich recherchiere viel aus dem Ausland und versuche es auf Österreich zu übertragen. Natürlich könnte ich mein Wissen für mich behalten und nur meinen engsten Angehörigen und Freunden zukommen lassen, aber so war ich noch nie. Je mehr Menschen Bescheid wissen, desto besser. Ein zweiter Punkt ist aber auch die mangelnde Aufklärung durch die Politik, die Gesundheitsbehörden und die Medien. In Österreich ist hier eine große Lücke entstanden.

Dieser Journalismus ist mehr als ein Nebenbei-Hobby

All das zu tun, kostet natürlich Zeit. Zeit, die in den etablierten Medien oft nicht bleibt, weil hier Tagesaktualität Trumpf ist. Unter dem Druck, eine schnelle Geschichte machen zu müssen, werden Aussagen von Expert*innen und aus der Politik ungeprüft verbreitet. Felix und Shirley berichten, dass sie mehrere Stunden pro Tag für die Recherchen, das Schreiben und Publizieren aufwenden. Ihr Antrieb: Als falsch erkannte Aussagen zu korrigieren und ein öffentliches Gegengewicht zu ihnen zu schaffen.

Shirley: Es kommen schon sehr viele Stunden zusammen. Aufgrund einer gesundheitlichen Einschränkung bleibt aber automatisch mehr Zeit für dieses „Hobby“. Mein Umfeld nutzt mich als vertrauenswürdige Informationsquelle. Nach vielen „News“ in den Medien melden sie mir oft zurück, dass sie das von mir schon seit Monaten wissen. 😉

Je mehr Menschen Bescheid wissen umso besser

Citizen-Journalismus verfolgt bei den Ergebnissen der Recherchen einen Open-Source-Ansatz. Dies ist der nächste große Unterschied zum etablierten Journalismus: Informationen über die Angelegenheiten, die uns alle angehen, werden nicht wie ein privater Schatz gehütet. Sondern sie werden mit voller Absicht mit so vielen Interessierten wie möglich geteilt. Diese können Infos ergänzen und weitergeben. Das gilt auch, und besonders, für die Quellen.

Felix: Ich möchte zeigen, was die Wissenschaft fähig ist, für die Gesellschaft zu leisten, indem ich Daten und Fakten analysiere und wissenschaftsjournalistisch aufbereite. In Österreich hat die Bevölkerung leider keinen umfassenden Zugang zu wissenschaftlichen Daten wie in anderen Ländern. Amtsgeheimnis, Datenschutz und der Föderalismus hindern die WissenschafterInnen selbst am Zugang zu Daten, um damit zu forschen und durch die Erkenntnisse etwa gezieltere Maßnahmen setzen zu können.

Shirley: Ich bin fassungslos darüber, dass es für durchschnittliche Medienkonsument*innen kaum möglich ist, sich in Österreich umfassend und fundiert zu informieren.

Durch Citizen-Journalismus in Zeiten der Pandemie entsteht ein Resonanzkörper für die internationale wissenschaftliche Diskussion, an dem wir alle teilhaben können. Er ist urdemokratisch.

Expert*inneninterviews in Medien ähneln oft einem Arzt-Patienten Gespräch

Fachwissen fällt aber nicht vom Himmel. Wer will, muss es sich mühsam erarbeiten. Wer über dieses Wissen nicht verfügt, nimmt auch problematische Aussagen für bare Münze. So kommt es, dass irgendwelche Expert*innen zur Pandemie in den Redaktionen herumgereicht werden. Sie müssen nur einen Titel aufweisen, der nach Fachwissen klingt. Wenn deren Aussagen nicht auf den wissenschaftlichen Forschungsstand und den Konsens in der Wissenschaftscommunity hin abgeklopft werden, dann wird aus (interessierter) Meinung eine (scheinbare) wissenschaftliche Wahrheit.

Felix: In den Zeitungs- und Fernsehredaktionen mangelt es offenbar an fachlichem Hintergrundwissen. Viele Journalist*nnen sind nicht in der Lage, die Aussagen von Experten im Kontext des wissenschaftlichen Konsens einzuordnen. Interviews ähneln oft einem Arzt-Patienten-Gespräch. Was der Arzt, in diesem Fall der Experte, sagt wird nicht hinterfragt. Ich vermisse eine umfassende Vorbereitung auf solche Gespräche. Journalist*innen sollten etwa frühere Aussagen der Interviewpartner recherchieren und sie mit Irrtümern und Widersprüchen konfrontieren. Das hätte uns eine Menge Scheinexpert*innen erspart, die monatelang daneben lagen und trotzdem wieder eine Bühne bekamen. Ein weiterer Fehler ist die Überbewertung des Titels. Ich weiß, Österreich ist ein titelverliebtes Volk, aber auch in einer Pandemie sollte man sich dringend davon lösen, die Expertise nur nach dem Renommée und der durchlaufenen Ausbildung zu beurteilen.

Was kann und was will Citizen-Journalismus bewirken?

Citizen-Journalismus kommt, erkennbar, nicht interessenlos daher. Ein aktivistisches Element ist ihm eingeschrieben. An dieser Stelle wird aber der Open-Source-Ansatz wichtig. Jede und jeder kann die Aussagen des Citizen-Journalismus nachprüfen und selber einordnen. Immer liegen die Quellen in Form von Links und Downloads offen. Das ist nicht nur ein freundlicher Service, sondern das ist die wesentliche Imprägnierung der Nutzer*innen gegen mögliche Manipulation oder Fehler. Citizen-Journalismus hält sich nämlich nicht für unfehlbar.

Shirley: Zu Beginn veröffentlichte ich in erster Linie Informationen zu Übertragungswegen, Optimierung von Schutzmaßnahmen, Aussagekraft von Tests etc. mit fundierten Belegen. Das ging über in das Kommentieren von politischen Entscheidungen zu Eindämmungstrategien und „Manöverkritik“, aber auch positive Anmerkungen zu Lerneffekten zB bei der konkreten Eindämmung von lokalen Clustern. Als aber letzen Herbst die Lernkurve in der Politik und der Gesundheitsbehörden und -institutionen weiterhin stagnierte, verstärkte sich meine Kritik und meine Fassungslosigkeit darüber, dass die Medien ihrer Aufgaben überwiegend nicht nachkamen.

Felix: Jeder Citizen Journalist ist per se aktivistisch, denn er füllt die Lücke des etablierten (bezahlten) Journalismus aus und steht naturgemäß in Opposition zur offiziellen Kommunikation. Warum sollte man sich sonst engagieren, neue Informationen oder eine andere Perspektive zu bieten, wenn es nicht genau das wäre, was auf den offiziellen Kanälen zu kurz kommt oder völlig fehlt? Ich versuche also die Lücke der Aufklärung zu stopfen und gleichzeitig zu erklären, warum ich sie stopfen muss.

Aufarbeitung nötig: Wer ist verantwortlich an der systematischen Desinformation und den verfehlten Pandemie-Strategien?

Vergleich der Sterblichkeit in ausgewählten Länden. Quelle: Euromomo

Die zweite Covid19-Welle im Herbst 2020 hat Österreich hart getroffen. Das war so von der  Wissenschaft vorhergesagt worden. Doch wurde diese gut begründete Prognose von der Politik und von einer Minderheit der Expert*innen lange Zeit negiert: Stichwort angeblicher Labor-Tsunami. In der Altergruppe 75-84 Jahre sind in Österreich im Vergleich mit anderen europäischen Ländern deutlich mehr Leute gestorben (siehe die Grafik oben). Das selbstgesteckte – und immer wieder verkündete – Ziel, die vulnerablen Gruppen schützen zu wollen, wurde definitiv nicht erreicht. Das Ergebnis: Die Betten in den Altersheimen stehen nun leer.

Und: Sogar beim Vergleich mit Indien schneidet Österreich bei der Zahl der Toten pro Kopf nicht besser ab.


Quelle: Our World in Data vom 10.5.2021, https://ourworldindata.org/coronavirus-data?country=AUT~DNK~IND#increase-of-deaths

Der Unterschied zu Indien: In Österreich wird im Verborgenen gestorben. Zur verfehlten Pandemiepolitik der Regierung wird es möglicherweise einen Untersuchungsausschuss im Nationalrat geben. Wenn der IbizaUA denn mal vorüber ist.

Bei dieser Aufarbeitung werden die Citizen-Journalist*innen mitmischen.

Felix: Was in der Pandemie fehlt, ist objektives, ehrliches Interesse an erfolgreichen Staaten. Was hat man dort besser gemacht als hier? Was davon hätte man übernehmen können? Heimische Medien würgen jede Debatte über eine Alternative zum Schwedischen Weg ab. Inselstaaten, „totalitäres Denken“. Warum wird es in Österreich abwertend als Aktivismus bezeichnet, wenn man im Einklang mit etlichen Wissenschaftlern wie Drosten, Brinkmann, Eckerle u.v.a anderen steht, die sich für eine paneuropäische Containment-Strategie aussprechen?

Shirley: Allerdings werde ich danach meine Energie für die Aufarbeitung einsetzen. Dabei geht es mir nicht um einzelne Fehlentscheidungen unter Zeitdruck, sondern um die Verantwortung für die systematische Desinformation und die verfehlten Strategien, die die Gesundheit und das Leben so vieler Menschen gekostet hat.

Ich will, dass die Motive und die Methoden auf den Tisch kommen. Das wird aber sicher ein schwieriges Unterfangen, weil sich die Akteure gegenseitig in Schutz nehmen werden und das ebenso wieder auf Desinformation basieren wird.

Felix: Es wird noch ein langer Weg, bis auch die Öffentlichkeit darüber aufgeklärt wird, warum man etwa bei Kindern dem Virus freien Lauf gegeben hat, obwohl lange Zeit wenig bekannt war, ob es zu Spätfolgen kommt. Das Vorsichtsprinzip wurde in weiten Teilen der Maßnahmensetzung missachtet, in anderen dafür übermäßig betont. Ich möchte dafür sorgen, dass die Fehler und das bewusste Wegschauen sichtbar gemacht werden.


Die Interviews im Wortlaut

Felix: Die Medien hierzulande betrachten die Pandemie eher wie ein Lifestyle-Thema

Shirley: Es fehlt die kritische Beleuchtung der politischen Strategien und Motive auf Basis der wissenschaftlichen Evidenz


Zum Titelfoto (und zugleich eine Buchempfehlung) :Es geht um das Buch Citizen Reporters: S.S. McClure, Ida Tarbell, and the Magazine That Rewrote America von Stephanie Gorton. Darin beschreibt sie den Aufstieg und Fall des McClure Magazine. Es wurde von S. S. McClure gegründet und sollte ein monatliches Magazin für die Leute sein. Das Magazin, in dem nicht-professionelle Journalist*innen Aufdeckergeschichten veröffentlichten, war ein Versuchslabor für unabhängigen und investigaten Journalismus. Im McClure schrieben unter anderem Rudyard Kilping, Louisa May Alcott, Alfred Lord Tennyson, Willa Cather, Arthur Conan Doyle, Henry James, Jack London and viele andere.

Downlowdtipp: Einige gängige Vorurteile zu Citizen-Journalismus sind in diesem deutschspachigen Sammelband von Gabriele Hooffacker zusammen getragen worden. Er ist frei downloadbar. Gabriele Hooffacker (Hg.), Wer macht die Medien? Back to the Roots of Journalism. Online-Journalismus zwischen Bürgerbeteiligung und Professionalisierung.


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2 Gedanken zu „Die Lücke der Aufklärung stopfen – Citizen-Journalismus in Zeiten der Pandemie“

  1. Danke für den guten Artikel über Citizen-Journalismus. Schade, dass es soweit kommen musste und Blogs eine Rolle wahrnehmen müssen, die die klassischen Medien nur noch in Einzelfällen wahrnehmen. Ich nehme diese Rolle selbst mit einem Blog in Luxemburg (https://clausnehring.com) wahr und weiß, wie viel täglicher Aufwand dazu getrieben werden muss.

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