Der Pflegeheimskandal in Salzburg ist auch ein Pflegeaufsichtsskandal

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By Redaktion Semiosis

Anfang September 2022 war der mediale Aufschrei groß, als die Volksanwaltschaft die Öffentlichkeit über Missstände in einem Salzburger Pflegeheim informierte. Nach dem Rücktritt des zuständigen Landesrats der Grünen, Heinrich Schellhorn, ebbten die Meldungen bald wieder ab. Die Aufarbeitung der Ursachen, die zu diesem Skandal geführt haben, läuft im Stillen ab – oder medial nur mehr in den vermischten Meldungen.
Semiosis sieht es als seine Aufgabe, nach der schnell abflauenden Entrüstung und nach den reißerischen Schlagzeilen die Verantwortung der Verantwortlichen einzumahnen – durch Recherche. Nur, wenn strukturell etwas geändert wird, können wir derartige Tragödien in Zukunft verhindern! @leixsa hat die Unterlagen der Volksanwaltschaft genau gelesen und juristische Expertise eingeholt; Sebastian Reinfeldt hat sich die Betreibergesellschaft des Salzburger Pflegeheims angeschaut.


Pflege mit Fäulnisgeruch

Eine unangekündigte Kontrolle im April 2022 der Volksanwaltschaft brachte die unmenschliche Pflegepraxis in einem Salzburger Pflegeheim ans Licht, das von der Unternehmensgruppe Senecura betrieben wird. Was sich in dem Heim abgespielt hat, führte mutmaßlich zum Tod einer unterversorgten und unterernährten Bewohnerin. Ihr Körpergewicht betrug lediglich 42,5 Kilo. Sie

[war] bereits so wundgelegen, dass durch die offene Wunde der Steißknochen frei zu sehen war und sich Fäulnisgeruch verbreitete.

(aus dem Bericht der Volksanwaltschaft)

Starke Schmerzen bis in den Tod

Der Frau wurden während der mangelhaften Wundversorgung – diese erfolgte ohne professionelle Reinigung der Wundränder – auch keine Schmerzmittel angeboten. Auch ist nicht erkennbar, wann ihr gesundheitlicher Zustand zuletzt mit einem Arzt oder einer Ärztin besprochen wurde. Nachdem die Betroffene den Vertreter*innen der Volksanwaltschaft berichtet hatte, dass sie ihren Alltag unter großen Schmerzen im Bett verbringt, stuften diese ihre Situation als lebensbedrohlich ein. Sie veranlassten ihre sofortige Überstellung in ein Krankenhaus. Dort starb sie kurze Zeit später. Ob die zeitliche Nähe ihres Todes eine Folge der mangelhaften Pflege war, wird noch zu klären sein. Ein entsprechender Verdacht ist jedoch nicht von der Hand zu weisen.

Die Schmerzen, die die Bewohnerin in ihrem letzten Lebensabschnitt erdulden musste, möchte man sich weder vorstellen noch selbst erleben, geschweige denn seine lieben Angehörigen dem ausgesetzt wissen. Das Recht auf Sterben in Würde ist ebenso unantastbar wie es ein Leben in Würde ist – oder zumindest sein sollte. Das Bedauern und Entsetzen darüber, dass der betroffenen Bewohnerin in ihrem letzten Lebensabschnitt offensichtlich beides verwehrt wurde, lässt sich kaum in Worte fassen.

Wir möchten den Angehörigen unser Beileid auszusprechen.

Und fragen uns: Wie konnte es so weit kommen?

Die Erklärung des Skandals seitens der Betreibergesellschaft

Wir haben beim Betreiber des Pflegeheims, bei der Senecura-Gruppe, nachgefragt, wo sie die Ursachen der Missstände sehen. In ihrem Statement führen sie den Personalmangel an. Wörtlich meinen sie auf Semiosis-Nachfrage:

Die allgemeine Personalknappheit im Pflegebereich wurde durch die Coronakrise verschärft. Das hat auch dazu geführt, dass in manchen Häusern – und zwar unabhängig vom jeweiligen Betreiber – zeitweise die Personalvorgaben unterschritten worden sind. Davon waren alle Pflegeheim-Betreiber und sonstige Anbieter von Pflege-Leistungen gleichermaßen betroffen. Das traf leider besonders auf unser Haus in Salzburg-Lehen zu, denn zusätzlich zum österreichweiten Personalmangel in der Pflege litt das Haus unter Langzeitkrankenständen und vielen Infektionsfällen unter den Mitarbeitenden.

Kein Einzelfall, sondern ein struktureller Heimskandal

Was die Volksanwaltschaft über die Missstände im besagten Heim im April 2022 festgestellt hat, zeigt, dass es sich beim dramatischen Zustand der Dame nicht um einen tragischen Einzelfall gehandelt hat. Ein Folgebesuch im Juni 2022 förderte nämlich zutage, dass sich die Situation in dem Senecura-Heim sogar noch verschlimmert hatte. Der Hauptgrund, auch laut Volksanwaltschaft: zu wenig Pflegepersonal. Diejenigen, die dort tätig sind, berichten, dass sie überfordert und überlastet seien. Das führte dazu, dass auch andere Bewohner*innen nicht mehr angemessen versorgt werden konnten, unter anderem mit Nahrung und Medikamenten.

Mittlerweile hat die Betreibergesellschaft Senecura einen „Re-Organisationsprozess“ gestartet. Konkret setzen sie Mitarbeiter*innen aus anderen Senecura Häusern zur Unterstützung des Teams in Salzburg-Lehen ein, erläutern sie auf Semiosis-Nachfrage. Zudem wurden sowohl die Regionalleitung als auch die Hausleitung neu besetzt. Schließlich wollen sie die Zahl der Bewohner*innen in Salzburg-Lehen verkleinern.

Der „Pflegeheimskandal“ ist allerdings passiert. Er schreckt die ältere Bevölkerung von einem Heimaufenthalt ab. Gegen die juristisch Verantwortlichen ermittelt die Staatsanwaltschaft nunmehr wegen des Verdachts auf „Quälen und Vernachlässigung von unmündigen, jüngeren und wehrlosen Personen“ sowie „Körperverletzung“.

Doch damit sind die Vorkommnisse in Salzburg-Lehen noch nicht hinreichend ausgeleuchtet.

Der Heimaufsichtsskandal: Behörde will nicht kontrollieren

Denn aus dem einen Skandal werden bald zwei. Die Missstandsfeststellung der Volksanwaltschaft gibt auch darüber Auskunft, dass die Zustände in der besagten Pflegeeinrichtung nicht der einzige Skandal ist. Vielmehr merkt sie erhebliche Fehler in der Salzburger Pflegeheim-Aufsicht an. Diese zeigen sich durch die absichtliche Untätigkeit der Behörde aufgrund eines abenteuerlichen Selbstverständnisses ihrer Aufsichtstätigkeit: Defizite bei der Qualität wie den Umgang mit Schmerzen und Mangelernährung der Bewohner*innen seien Sache der „Eigenverantwortung“ des Heimbetreibers. Verbindliche Vorgaben stellten daher eine Kompetenzüberschreitung dar. Geprüft würde lediglich, ob Wohnräume und Nasszellen ordentlich geputzt seien.

Der Ausdruck Eigenverantwortung ist seit der Pandemie zum politischen Modewort für „Verantwortung abgeben“ verkommen. Dementsprechend hat die Aufsichtsbehörde den Heimbetreiber ausdrücklich darüber informiert, dass die Aufsichtsbehörde nichts mit der Umsetzung von Verbesserungen der Situation der Bewohner*innen zu tun haben möchte. Sie würde nämlich die Empfehlungen, die sie ausgesprochen hat, nicht weiterverfolgen. Es gebe da keine Nachschau. Es stellt sich die Frage, was einen privaten Heimbetreiber somit anspornen sollte, auf die Gesundheit seiner Schutzbefohlenen zu achten, wenn es ohnehin egal ist und sie – ganz eigenverantwortlich – keine Konsequenzen fürchten müssen.

Der skandalträchtige private Betreiber: Senecura

Wie gesagt, das Heim ist in privater Hand. Es gehört zur Senecura-Gruppe. Vorherige Pflege-Skandale in Niederösterreich in Kirchheim am Wechsel und in Sitzenberg-Reidling bei Tulln spielten sich ebenfalls in Einrichtungen ab, die von dieser Gruppe betrieben worden sind. Auch hier lautete die Hauptursache für die menschenunwürdigen Zustände: Mangel an Pflegepersonal. Die Ökonomen Martin Krenn und Leonard Plank haben erhoben, dass 2021 in Österreich 27 Prozent der Alten- und Pflegeheime privatwirtschaftliche, gewinnorientierte Einrichtungen waren. Rund ein Drittel davon gehören zur Senecura-Gruppe, die seit 2015 im Land expandiert. Das bedeutet, sie kaufen Pflegeheime im Land auf.

Derzeit lassen sich in Österreich in der Pflege, salopp gesagt, keine großen Gewinne abschöpfen, so Plank und Krenn. Die Strategie der Senecura-Gruppe könnte es sein, eine beherrschende Marktpostion aufzubauen und dann Druck auf Lockerung der gesetzlichen Vorgaben zu machen. Hinter der Senecura-Gruppe wiederum steht der französische Orpea-Konzern – mit 1077 Altenheimen der größte Betreiber von Pflegeheimen in ganz Europa. Seit 2015 wächst der Umsatz von Orpea konzernweit um 15 Prozent pro Jahr an. Die Personalkosten bleiben dabei annähernd gleich, so erläuterten Plank und Krenn bei der Fokuskonferenz Pflege der Zukunftswerkstatt Gesundheit am 23. September in Wien.

Eine Frage der Zuständigkeit

Zurück nach Salzburg. Dort sei laut Aussagen der Salzburger Landesregierung die Qualität der Pflege gar nicht Inhalt der Aufsichtstätigkeiten der Behörden. Solche Aussagen sind natürlich traumhaft für ein Unternehmen wie Senecura.

Aber: Stimmt diese Aussage eigentlich? Wir haben uns die rechtlichen Regelungen angeschaut.

Nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung sind die Länder für das Betreiben von sozialen Diensten verantwortlich. Stationäre Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheime sind solche sozialen Dienste, weshalb die Landesregelungen zu befragen sind.

Der Bund hat dabei nicht besonders viel mitzureden, obwohl er selbstverständlich als Player gesehen werden kann. Durch die Pflegevereinbarung von 1993 wurde zwischen Bund und Ländern unter anderem ausdrücklich vereinbart, dass

[d]ie Länder Regelungen für die Aufsicht von Alten- und Pflegeheimen, die insbesondere auch den rechtlichen Schutz der Heimbewohner gewährleisten, zu erlassen [haben].

https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1993_866_0/1993_866_0.pdf

Überdies erwähnt diese Vereinbarung Qualitätskriterien wie die Größe von Heimen und Zimmern, aber auch ihre Infrastruktur. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass Bund und Land lediglich die Zimmerausstattung beaufsichtigen sollten.

Allgemeine rechtliche Ausführungen

In Salzburg ist für stationäre Einrichtungen wie ein Pflegeheim das Salzburger Pflegegesetz anwendbar. Es heißt im Langtitel ausdrücklich:

Gesetz zum Schutz von Personen in Pflegeeinrichtungen […]

Das wird dann auch in der Zielbestimmung des Gesetzes konkretisiert:

Dieser Schutz umfasst insbesondere den Schutz der Menschenwürde und der sozialen, wirtschaftlichen und pflegebezogenen Interessen, die Wahrung der Individualität und einer möglichst weit gehenden Selbstständigkeit der Person und den Schutz vor Beeinträchtigungen und Gefährdungen im Pflegeverhältnis.

https://www.reinhardgruber.com/wp/wp-content/uploads/2016/05/Salzburger-PG-Fassung-vom-29.09.2016.pdf

Man kann nicht erkennen, dass sich so ein „Schutz“ nur auf die Reinlichkeit der Räume beziehen sollte, wie das vonseiten der Behörde behauptet wird. Ein schmutziges WC kann natürlich gesundheitsgefährdend sein. Aber, wenn eine Person es aufgrund mangelhafter Ernährung nicht einmal mehr alleine bis zu diesem WC schafft, scheint dieses Problem eher vernachlässigbar, überspitzt formuliert.

Das Gesetz legt Mindeststandards fest, wonach

[d]ie Träger von Pflegeeinrichtungen eine angemessene, zielorientierte und planmäßige Pflege sicherzustellen [haben], die an einer möglichst weit gehenden Erhaltung und Wiedererlangung von Fähigkeiten und der Selbständigkeit des Kunden orientiert ist.

https://www.reinhardgruber.com/wp/wp-content/uploads/2016/05/Salzburger-PG-Fassung-vom-29.09.2016.pdf

Als Mindeststandards werden unter anderem bauliche und technische Standards für Heime, die darin zu erbringenden (Pflege-)Leistungen, Vorgaben zu Personalausstattung und Qualitätssicherung, ärztliche Betreuung und Arzneimittel sowie zu Verpflegung und Hygiene vorgesehen. Diese Bestimmungen sind recht offen gehalten.

Wer hat die Aufsicht?

Zwei Institutionen sollten kontrollieren, was in einem Pflegeheim passiert: Pflegeanwaltschaft – und die jeweilige Landesregierung. Dabei hat die Pflegeanwaltschaft die Rechte und Interessen von Heimbewohner*innen sicherzustellen. Weiters muss sie bei Mängeln oder Missständen im pflegerischen Bereich oder bei Schädigung der Gesundheit tätig werden. Die Landesregierung hingegen beaufsichtigt, dass die im Salzburger Pflegegesetz enthaltenen Mindeststandards eingehalten werden.

Das Gesetz besagt hier ausdrücklich, dass bei der Feststellung von Mängeln eine Beseitigung dieser anzustreben ist. Wenn eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Kunden oder eine erhebliche Beeinträchtigung der geschützten Interessen der Kunden festgestellt worden ist, kann der Betrieb der Pflegeeinrichtung sogar zur Gänze oder teilweise untersagt werden.

Die Ausreden der Aufsicht

Das bedeutet, selbst wenn die Gesundheit der Bewohner*innen als solche nicht als „Mindeststandard“ definiert ist und die Salzburger Landesregierung partout den Standpunkt vertritt, dass nur die Einhaltung dieser Mindeststandards zu prüfen ist, so sind der Heimaufsicht in solchen Fällen dennoch nicht die Hände gebunden. Das Gesetz selbst gibt Handlungsmöglichkeiten vor und „normiert“ damit die Beachtlichkeit des Lebens, der Gesundheit und geschützter Interessen der Bewohner*innen. Das ergibt sich übrigens bereits auch aus den Menschenrechten – zu denken ist dabei insbesondere an die Menschenwürde oder das Recht auf Leben und damit das Verbot der Folter, der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung.

Die spannende Frage ist also: Gelten diese Menschenrechte auch in Salzburg?


Titelfoto: Screenshot aus dem Regionen Folder Salzburg von Senecura.

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