Lützerath, Klimakleber und die Startbahn 18 West

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By Sebastian Reinfeldt

Für nicht wenige aus der sogenannten „Boomer-Generation“ spielt sich bei den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen zur Klimakrise ein Replay ab, hinein in die späten 1970er bzw. die 1980er Jahre. Was in Österreich der Kampf gegen die AKW-Pläne-Zwentendorf und gegen die Kraftwerkspläne in der Hainburger Au war, ereignete sich parallel auch in Deutschland. Stichworte sind die Auseinandersetzungen um die atomare Wiederaufbereitungsanalge Wackersdorf, das atomare Atommüllendlager Gorleben und eben der Widerstand gegen die Erweiterung des Frankfurter Flughafens durch eine dritte Startbahn: die Startbahn 18-West. Bemerkenswert ist, wie sehr sich die Konstellationen und die Sprachmuster von damals und heute ähneln – und wo sie sich unterscheiden. Als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert. Sebastian Reinfeldt erinnert sich an diese Kämpfe. Für ihn steht fest: Wären sie anders ausgegangen, dann hätten wir die Klimakrise nicht – zumindest nicht in dieser Form.


Eine Region wehrte sich

Unter diese Überschrift stellten die „sozialen Bewegungen“ (so bezeichnete die Politikwissenschaft damals die Aktivist*innen) ihre Aktionen gegen den geplanten und bis 1984 letztlich durchgeführten Bau der Startbahn 18 West des Frankfurter Flughafens. Tatsächlich kam es im Zuge der Mobilisierung zu lokalen Koalitionen von autonomen Studenten, den Schüler*innen aus der Rhein-Main-Region (zu denen ich damals gehörte) mit den Alteingesessenen. Manchmal hörte man, es gebe eine „Koalition aus Langhaarigen mit den Grauhaarigen“. Klar war, dass der Ausbau des Frankfurter Flughafens die Lebensbedingungen in der Region nachhaltig verändern würde. Das beginnt mit dem Dauerthema Fluglärm und endet bei einer regionalen Infrastruktur, die der Flughafen wie ein Magnet zu sich hin ausrichtet. Zudem mussten rund sieben Hektar Wald abgeholzt werden, um für die startenden und landenden Flugzeugen Platz zu schaffen. Das Thema Weltklima war zwar präsent, blieb aber eher untergeordnet. Den ersten Bericht des Club of Rome, die Grenzen des Wachstums, hatten wir in der Schule besprochen.

Vorgebliche Alternativlosigkeit

Es gebe keine Alternative zu dem Projekt. In vielen Varianten wurde dieses Argument wieder und wieder verbreitet. Der Flughafen würde ansonsten seine internationale Bedeutung verlieren, er sei ein Wirtschaftsmotor, die paar Bäume mehr oder weniger fielen nichts ins Gewicht. Es gebe doch ein Nachtflugverbot. Und in der Nähe eines Flughafens sei es nun mal laut. Das waren, summa summarum, die Argumente für den Flughafenausbau.

Dagegen sprach die Befürchtung, dass der Prozess des Wachsens in die Region hinein niemals enden werde. Tatsächlich sind nach Inbetriebnahme der Startbahn 18 West das Terminal 2 und der Fernbahnhof gebaut worden. Die Betreibergesellschaft, die Flughafen Frankfurt/Main AG (FAG), ging als Fraport AG an die Börse und erbaute später das Gegenstück zur Startbahn West, die Landebahn Nordwest. Seit 2015 entsteht am Flughafen zudem ein weiteres Terminal, das Terminal 3.

Der Ort Lützerath wiederum müsse unbedingt weichen – für die Energiesicherheit Deutschlands. So argumentieren die Befürworter:innen der Zerstörung des Gemeinwesens Lützerath mit ernster Miene. Dieses Argument war, und ist, indes fragwürdig. Nur als Hinweis: Zumindest das Deutsche Institut für Wirtschaft sah das im April 2022 noch anders:

Bei Verzicht auf die russischen Energieträger würde es zu einer kurzfristig höheren Auslastung der Braunkohlekraftwerke in den drei Regionen (Rheinland, Leipziger Land, Lausitz) kommen. Jedoch ist gesichert, dass für die noch benötigte Braunkohleverstromung mehr als ausreichend Vorräte in den Braunkohletagebauen im Rahmen der aktuellen Revierpläne und Leitentscheidungen vorhanden sind. Die Abbaggerung weiterer Dörfer wegen darunterliegender Braunkohlevorräte ist für den Braunkohlestrombedarf jedoch nicht notwendig. Dies gilt auch für die Orte Lützerath im Rheinland und Mühlrose in der Lausitz.

Quelle: https://www.diw.de/de/diw_01.c.839636.de/publikationen/diw_aktuell/2022_0084/stromversorgung_auch_ohne_russische_energielieferungen_und_t___z_atomausstiegs_sicher_____kohleausstieg_2030_bleibt_machba

Bei beiden Großprojekten gab und gibt es jeweils rechtsgültige Urteile und juristische Titel, die das Vorgehen der Polizei gegen die Proteste legitimieren.

Ein Bündnis aus herrschenden Parteien, Regierungsapparaten und Konzernen setzt sich durch

Diese Legalität der Projekte entsteht durch parlamentarische Mehrheiten, Gerichtsentscheide – aber auch dadurch, dass die politisch und ökonomisch Handelnden eng miteinander verflochten sind. So war die Startbahn-Bauherrin Flughafen AG bis zu ihrem Börsengang 2001 ausschließlich in öffentlicher Hand. Sie gehörte zu rund 45 Prozent dem Land Hessen, zu rund 29 Prozent der Stadt Frankfurt am Main und zu etwa 26 Prozent der Bundesrepublik Deutschland. Die Interessen des Staates und die der Bauherrin waren eins.

Heute sind die Anteilseigner des Flughafen AG-Nachfolgers Fraport AG weiterhin das Land Hessen mit 31 Prozent, die Stadtwerke Frankfurt am Main Holding GmbH mit 20 Prozent und die Deutsche Lufthansa AG mit 9 Prozent.

Der Lützerath Abbruchkonzern RWE hingegen erscheint als ein privater Wirtschaftsakteur. Er ist ein Energieriese. Ein tieferer Blick verrät auch hier, dass die öffentliche Hand mitmischt. So hält alleine die Stadt Dortmund rund fünf Prozent der RWE-Aktien. Zudem besitzen weitere knapp 80 Städte und Kreise einen Anteil am Grundkapital. Sie sind im Verband Kommunaler Aktionäre (VKA) Rheinland gebündelt und verfügen über rund 23 Prozent der RWE-Anteile. Auch im Fall von RWE ist eine enge Verzahnung von Politik mit der Wirtschaft erkennbar, die im Bundesland Nordrhein-Westfalen zudem seit Jahrzehnten eingeübt ist.

Polizisten transportieren Protestierende ab: in Lützerath in Fahrzeugen, die RWE bereitstellt – samt Firmenlogo

Die Frage der Legalität

Sicherlich tauchen im Zuge solcher Auseinandersetzungen grobschlächtige Argumente auf. Aufmerksamkeit verdient aber der damalige Ausspruch des hessischen Ministerpräsidenten, Holger Börner (SPD), über die Protestierenden: Früher hätte man solche Probleme auf dem Bau mit der Dachlatte gelöst, meinte er. Damit hat er nicht nur eine ganze Generation von der SPD vertrieben und zum parlamentarischen Erfolg der Grünen beigetragen. Der Ausspruch lässt die entsicherte, rohe Bürgerlichkeit in den höchsten Etagen der Politik erkennen. Die zeigt sich heutzutage auch, wenn sie Klimaaktivistinnen, die den Straßenverkehr blockieren, am liebsten eigenhändig verprügeln und von den Straßen reißen würden.

Es ist immer die herrschende Politik, die unbesehen legal agieren kann und für sich Friedfertigkeit in Anspruch nimmt. Für die andere Seite gilt dies, in der öffentlichen Diskussion jedenfalls, nicht. So hatten die Aktivist*innen im Fall der Startbahn zwar nach hessischer Verfassung genügend Unterschriften gesammelt, um einen Volksentscheid über den Bau der Startbahn-18-West zu erzwingen. 120000 Menschen kamen alleine zur Übergabe der Unterschriften in die Landeshauptstadt Wiesbaden. Volksbegehren samt Volksentscheid wurden jedoch mit höchstrichterlicher Entscheidung für unzulässig erklärt. Er sei nämlich verfassungswidrig, so der Tenor des umstrittenen Urteils.


Zum juristischen Teil der Auseinandersetzung um die Startbahn West, die seit 1970 die deutschen Gerichte beschäftigt hatte, empfehlen wir den Aufsatz des Juristen Uwe Wesel mit dem Titel: Offenbar unbegründet.

Download: Uwe Wesel, Offenbar unbegründet, Zeitschrift: Kritische Justiz, Nr 2/1982


Die Radikalisierung der Bewegung begann in der Zeit nach dieser Entscheidung – und als Folge davon. Auch, weil die legalen Wege verschlossen worden sind.

(K)Eine grundlegende Weichenstellung

Auch im Fall von Lützerath agiert das breite Bündnis aus Politik und Wirtschaft – einschließlich der mittlerweile Bundesland-Regierungspartei der Grünen im fabrizierten Einklang mit den Gesetzen. Formal ist das alles rechtmäßig. Der Konzern RWE besitzt alle Rechtstitel zu agieren, wie er es tut, und er kann daher seine Pläne vorbehaltlos durchsetzen.

Doch zeigt sich hier ein gravierender Unterschied zu damals: Die Zerstörung des Ortes, um für einige wenige Jahre noch die Kohle, die drunter im Boden liegt, abbauen zu können, wirkt völlig sinnlos, ja geradezu aus der Zeit gefallen. Das hat wohl meine Erinnerung an die Auseinandersetzungen zur Startbahn 18-West getriggert.

Denn: Im Jahr 2023 einen Ort platt zu machen, die Wohnhäuser mutwillig zu zerstören und die Menschen zwangsweise umzusiedeln, nur um mit riesigen Baggern dreckige Kohle aus dem Boden zu schaufeln… – das ist völlig absurd! Besonders die Tatsache, dass der Kohleabbau in Deutschland spätestens 2030 beendet sein wird, wirft die Frage nach dem Sinn des Projektes und der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel auf.

Im Fall der Startbahn-Auseinandersetzung ging es um eine grundlegende Weichenstellung: Der fossile Kapitalismus lief derzeit auf Hochtouren, er vernutzt dafür die Ressourcen der Natur. Zwar hatte die Bewegung gegen den Ausbau auch gute, wissenschaftlich gesicherte Argumente dafür, dass dieser Weg eine Einbahnstraße sein würde. Doch galt auch damals in der Politik schon: Dont look up!

Die Frage der Gewalt

Die Startbahnbewegung hat sich in zwei Richtungen transformiert. Der parlamentarische Arm wurden die Grünen, die sich in den Folgejahren überraschend schnell von ihrem ‚Körper‘ ablösten: 1985 wurde ihre Führungsfigur, Joschka Fischer, zum Umweltminister ernannt. Er trat in eine Koalition mit dem bereits erwähnten Dachlatten-Sager Börner ein. Der Rest ist Geschichte. Die Startbahn war dann kein Thema mehr.

Ein anderer Teil der Bewegung rannte noch jahrelang gegen die fertig gebaute Startbahn West und den sie schützenden meterhohen Zaun an. Am 2. November 1987 feuerte ein Aktivist – aus einer Demonstration am Waldrand heraus – 14 Pistolenschüsse auf Polizist*innen ab. Er traf zwei von ihnen tödlich. Sieben weitere verletzte er dabei. Diese Aktion markierte das Ende der Bewegung; der Schütze wurde rechtskräftig zu 15 Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.

Die Stör-Aktionen der Klimaaktivist*innen heutzutage sind bei weitem harmloser als das, was sich in den 1980er Jahren im Wald rund um den Flughafen abgespielt hat. Heute setzen sie durchwegs friedliche Mittel des demokratischen, zivilen Ungehorsams ein, Mittel, die angesichts der Bedrohung, gegen die sie vorgehen, gute Gründe für sich in Anspruch nehmen können.

Die Antwort der Politik fällt aber ähnlich harsch, autoritär und repressiv aus wie vor 35 Jahren.

In welche Richtung sich die Klima-Aktivist*innen transformieren werden, bleibt abzuwarten. Die Fehler der Vorgänger*innen müssen sie ja nicht zwangsläufig wiederholen.

Wiener Zeitung, 10. Januar 2023


Super 8-Dokumentation: Der Widerstand gegen die Startbahn West

Das Beitragsbild ist ein Videostill aus diesem sehenswerten Zusammenschnitt von Super-8 Aufnahmen bei den Auseinandersetzungen zur Startbahn West vor Ort.

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