Friedensforscher steigen aus Vienna Peace Summit aus

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By Redaktion Semiosis

„Bitte streicht das HKI aus der Liste der lokalen Partner.“

Mit diesen Worten ist das Herbert Kelman Institut (HKI) aus dem Vorbereitungszirkel des Vienna Peace Summits ausgestiegen. Nach dem Semiosis-Bericht zu einzelnen Sprecher:innen des für den 10. und 11. Juni 2023 angekündigten Peace Summits und besonders zur israelfeindlichen Vereinigung Code Pink, die das Ganze mitorganisiert und mit trägt, steigen die Friedensforscher:innen rund um das Wiener Kelman-Institut aus der Vorbereitung aus.

Ihre Begründung: Es sind die „woken“ und „als antisemitisch kritisierten“ Positionen von Code Pink, mit denen kein Frieden zu machen ist. Das Institut sieht daher seine Arbeit im Nahen Osten gefährdet.

Semiosis hat Wilfried Graf, den Direktor des HKI und ehemaligen Chef der Grünen Bildungswerkstatt, zum Interview gebeten. Das Zauberwort in unserem Gespräch lautet: „Empathie“. Die Themen reichen von der Invasion Russlands bis zu den Konflikten im Nahen Osten.


Das Herbert C. Kelman Institut (HKI) hat sich aus dem Kreis der Organisationen, die das Peace Summit in Wien vorbereiten, mittlerweile zurückgezogen. Warum?

Ich hatte diese Konferenz in der Hoffnung unterstützt – inmitten des hoch polarisierten Meinungskampfs zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine – an einem Forum mitzuwirken, das neue Dialogformen und Friedensstrategien erarbeiten könnte.

Eine zugrunde liegende Hypothese, die ich in einem Artikel genauer ausführe, lautet:

Auch in sehr stark eskalierten, langandauernden und scheinbar nicht lösbaren Konflikten kann man Friedensprozesse mit Dialogprojekten begleiten oder vorbereiten. Inoffizielle internationale Initiativen durch zivilgesellschaftliche Akteure können dazu beitragen, offizielle Prozesse vorzubereiten, zu ergänzen, aber auch zu erweitern, durch komplexere Konfliktanalysen und kreativere Lösungsperspektiven.

Wilfried Graf 2023, Zeitschrift: Spektrum der Mediation, 2. Quartal, Juni 2023

Im Februar 2023 habe ich gemeinsam mit Werner Wintersteiner das Buch von Edgar Morin „Von Krieg zu Krieg. Von 1940 bis zur Invasion der Ukraine“ herausgegeben. Dort wird genau das – zumindest – versucht.

Im Besonderen ging es uns dabei um ein möglichst differenziertes und komplexes Verstehen und Erklären der Wechselwirkung zwischen dem (Vordergrund-)Widerspruch Russland-Ukraine und dem (Hintergrund-)Widerspruch Russland-NATO. Ich denke, dass jede Vorbereitung möglichst konstruktiver und nachhaltiger Friedensprozesse diese Widersprüche bearbeiten und alle involvierten oder betroffenen Stakeholder einbeziehen muss.

Ukrainische Mediator:innen verweigern bislang einen Dialog mit der russischen Seite

Spätestens mit der Kritik ukrainischer Mediator:innen an der Wiener Konferenz hätten wir beginnen sollen, vom Fokus auf Anti-Kriegs-Positionen hin zu neuen Formen und Settings des Dialogs zu kommen, etwa zwischen Befürwortern eines „Friedens Jetzt“ und Befürwortern einer Solidarität mit der Ukraine. Solche Begegnungen sind dort laut Programm gar nicht vorgesehen. Die ukrainischen Mediatorinnen verweigern bislang den Dialog mit pazifistischen Positionen, aber das ist nachvollziehbar und erfordert zunächst analytische Empathie von unserer Seite. [Ihr Statement haben wir im Anschluss an dieses Interview dokumentiert.]

Ich hoffe, dass es trotz des Zeitdrucks letztlich gelingen wird, in der Abschlusserklärung des Wiener Peace Summit simplifizierende Positionen zu überwinden – im Spannungsfeld zwischen „analytischer Empathie mit der russischen Seite“ versus einer „analytischen Empathie mit der Ukraine“. Konflikttheoretisch bräuchte es dafür sowohl eine eigenständige, historisch-soziologische Theorie des russischen Imperialismus (das fehlte schon in den 1980er Jahren) als auch eine Theorie geopolitischer Bruchlinien, die in Mainstream-Theorien der „Internationalen Beziehungen“ meist unterbelichtet bleiben.

Keinerlei analytische Empathie mit der jüdisch-israelischen Seite

Der unmittelbare Anlass meines Rückzugs waren aber nicht interne Widersprüche und Differenzen in der Koordinationsgruppe, sondern die Informationen über die sehr „woken“ Positionen von einem der amerikanischen Initiatoren im israelisch-palästinensischen Konflikt, die auch als antisemitisch kritisiert werden. Sie fokussieren auf eine sehr exklusive Weise nur auf die analytische Empathie mit der palästinensischen Seite, auf Kosten jeglicher analytischen Empathie mit der jüdisch-israelischen Seite. Das Kelman Institut versucht im Nahen Osten ganz anders zu arbeiten und ich kann nicht riskieren, unsere Projekte durch die Akzeptanz solcher Positionen zu gefährden. Selbstkritisch muss ich anmerken, dass ich das natürlich schon früher hätte recherchieren sollen.

Welche Zielsetzungen haben eure Projekte im Nahen Osten?

Unsere Projekte im Nahen Osten stehen in der Tradition Herb Kelmans (1927–2022), der 1939 mit 13 Jahren vor den Nazis aus Wien flüchten musste. Er kann nicht nur als ein früher Pionier der modernen Friedensforschung angesehen werden, sondern als Praxeologe einer 40-jährigen Konfliktarbeit im Nahen Osten – und die Wurzeln seiner Forschung und Praxis, die hierzulande kaum jemand kennt, liegen in seinen Erfahrungen mit dem österreichischen Antisemitismus.

Der Weg zum Frieden über Netzwerkbildung

Es geht bei dieser Praxis nicht um Mediation oder Verhandlungen, sondern um das Kreieren von Netzwerken, die informell bleiben und keine Seite binden. Gerade deswegen können hier neue und kreative Ideen entstehen, die natürlich zunächst zurückgewiesen werden, aber in zukünftigen Verhandlungen eine besondere Rolle spielen können – meist erst Jahre oder gar Jahrzehnte später.

Desillusioniert durch das Scheitern des Oslo-Prozesses haben aber heute viele Israelis und Palästinenser:innen den Glauben an einen Dialog verloren und stellen die Sinnhaftigkeit von Dialogprozessen in Frage. Während wir bereits ab 2006 in Dialoginitiativen zum israelisch-palästinensischen Konflikt engagiert waren und dabei gemeinsam mit unseren Projektpartnerinnen das Scheitern dieser Dialogprozesse analysiert hatten, erkannten wir in den letzten Jahren, dass es nicht ausreicht, neue Methoden, Instrumente oder „Dialogabläufe“ zu entwickeln. Es braucht Überlegungen und Veränderungen auf einer tieferen Ebene, angefangen bei uns selbst als internationale oder lokale Vermittelnde.

Das Ziel: wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher Weltbilder, nationaler und religiöser Identitäten

Dabei werden nicht nur politische und sozio-ökonomische Widersprüche bearbeitet, nicht nur strukturelle und kulturelle Machtasymmetrien bewusst gemacht, sondern vor allem weltanschauliche, religiöse, sozio-kulturelle und sozialpsychologische Barrieren untersucht, die einer nachhaltigen Konfliktlösung seit Jahrzehnten entgegenstehen, im besonderen die gegenseitige Verleugnung der kollektiven Kernidentitäten. Entsprechende übergreifende Lösungsperspektiven sollen auf Grundlage einer wechselseitigen Anerkennung unterschiedlicher Weltbilder, nationaler und religiöser Identitäten erarbeitet werden.

Das bedeutet auch: mit dem Feind reden!

Die dabei erzielten Ideen und Vorschläge sind nicht nur an offizielle Verhandlungsführer:innen weiterzugeben, und auch nicht nur an die sogenannten gemäßigten Kräfte, die schon zum Dialog bereit sind, sondern auch an die sogenannten Hardliner und potentiellen „Veto-Gruppen“.

Das bedeutet nicht liberale Peace-Mediation von oben und außen sondern vor allem partizipative Konfliktforschung, gemeinsam mit lokalen Organisationen, Insider-Facilitators und direkten Vertreterinnen der Konfliktparteien. Unser Ansatz konzentriert sich heute mehr und mehr auf die entscheidende Rolle von Insider-Vermittlerinnen, die Dialogprozesse innerhalb und zwischen Konfliktparteien und vielen verschiedenen Interessengruppen organisieren.

Ab 2015 gelang es, ein längerfristig angelegtes Programm zu beginnen, ein Aktionsforschungsprojekt zur religiösen Dimension im israelisch-palästinensischen Konflikt. Dieses Projekt zielt einerseits auf konkrete Deeskalation vor Ort ab, andererseits auf die Erarbeitung innovativer Lösungsperspektiven im Rahmen eines zukünftigen Friedensprozesses, mit einer Arbeitsgruppe von Insider-Facilitatoren, die erfolgreich versucht, Dialoge mit Repräsentant*innen verschiedener religiöser Gruppen zu führen (konkret: jüdisch-nationalreligiös, jüdisch-ultraorthodox, jüdisch-säkular, palästinensisch-muslimisch, palästinensisch-säkular).

Auf diese Weise versuchen wir Konflikttransformation zu fördern, die über politische Ziele und sozialen Interessen hinaus die Ebene der Ideologien und Weltbilder adressiert, die tiefen Werte-Systeme der Konfliktparteien, ohne sie an den „runden Tisch“ zu bringen. Wir versuchen Verständnis und Vereinbarungen zu erreichen, die mit verschiedenen Weltbildern gleichzeitig übereinstimmen, ein Übereinkommen, dem sowohl jüdische Israelis als auch Palästinenser*innen, Religiöse und Säkulare, Liberale und Nicht-Liberale, zustimmen können.

Welche Erfahrungen habt ihr bei euren Nahost-Projekten gemacht und inwiefern lassen sich diese auf die Diskussion der „full scale invasion“ Russlands in der Ukraine übertragen?

Jeder Konflikt ist einzigartig, jeder Konflikt ist teilweise auch vergleichbar. Wir haben mittlerweile eine komplexe, integrative Philosophie und Theorie der Konflikttransformation, die vielleicht auch ermöglicht den russisch-ukrainischen Konflikt und seine tieferen Kontexte konstruktiv zu bearbeiten. Zum Beispiel versuchen wir in Jerusalem, das jeweilige „Nicht-Verhandelbare“ der Konfliktparteien zu erforschen, immer mehr wechselseitig ins Bewusstsein zu bringen, statt für oberflächliche Kompromisslösungen unter den Tisch zu kehren. Wir machten dabei die Erfahrung, dass israelische Juden und Jüdinnen eine positive Haltung in Bezug auf Verhandlungen mit den Palästinenser:innen einnehmen konnten, wenn palästinensische Politiker:innen den Holocaust auf eine empathische Weise anerkannten. Umgekehrt konnten Palästinenser:innen eine solche konstruktive Haltung entwickeln, wenn ihnen Empathie für die Naqba und das Recht auf Rückkehr entgegengebracht wurde.

Auf ähnliche Weise gibt es die Möglichkeit, ukrainische und russische Insider-Facilitator:innen dabei zu unterstützen, ihre Konflikte auf der Ebene der Weltbilder zu bearbeiten (im besonderen den weltanschaulichen und ideologischen Konflikt zwischen westlicher Demokratie und Autoritarismus) sowie ihre quasi „heiligen“ Werte (zum Beispiel absolut gesetzte territoriale Ansprüche) sowohl anzuerkennen als auch zu reframen.

Statt Feindschaft konstruktive Gegnerschaft

Aus Feindschaft soll kein verfrühter Konsens, kein falscher Frieden oder falsche Versöhnung entstehen, sondern konstruktive Gegnerschaft, die manchmal erst – wie derzeit in Israel und Palästina – durch langwierige und tiefergehende Intra-Dialogprozesse innerhalb der einzelnen Konfliktparteien vorbereitet werden muss. Die Arbeit besteht somit in einem jahrelangen, facilitierten Dialogprozess, den wir mittlerweile – über kognitive »Probleme« hinausweisend, mit Bezug auf den sozialpsychologischen Ansatz Kelmans – »Interaktive Konflikttransformation« (IKT) nennen. In diesem Sinn wird sich das HKI weiter darum bemühen, in den kommenden Jahren längerfristige Dialogprojekte in der Ukraine, Russland und der ganzen Region zu fördern und zu vermitteln.


Dokumentation: „Nothing about us without us“

Dieser Appell von ukrainischen zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisiert den Ansatz, den Krieg jetzt sofort zu beenden, der auch den Vienna Peace Summit prägt.

Das Papier wurde von 40 (!) ukrainischen Organisationen aus den Bereichen Menschenrechte, Feminismus und Mediation unterzeichnet.

Download: https://www.semiosis.at/wp-content/uploads/2023/05/Ukrainepeaceappeal2023.pdf


Eine fragwürdige Friedenskonferenz in Wien (Semiosis, 19. Mai 2023)


Weitere Literatur

Graf, W. (2016). Experimente mit inoffizieller Diplomatie. Das Kelman Programm für Interaktive Konflikttransformation. In W. Wintersteiner & L. Wolf (Hg.), Friedensforschung in Österreich. Bilanz und Perspektiven (S. 238–269). Drava.

Graf, W. & Kramer, G. (2016). Zwischen Scheitern und Neubeginn: Zivilgesellschaftliche Unterstützung des Friedensprozesses in Sri Lanka. In M. Lakitsch & S. Reitmair-Juárez (Hg.), Zivilgesellschaft im Konflikt. Vom Gelingen und Scheitern in Krisengebieten (S. 119–130). LIT.

Graf, W., Kramer, G. & Nicolescou, A. (2010). Complexity Thinking as a Meta-Framework for Conflict Transformation. In Search of a Paradigm and a Methodology for a Transformative Culture of Peace. In V. Ratkovic & W. Wintersteiner (Ed.), Culture of Peace. A Concept and a Campain revisited (S. 58–81). Drava.

www.kelmaninstitute.org

Bildhinweis: Unser Titelbild ist von der Homepage des feministischen Manifests The right to resist“: https://commons.com.ua/en/right-resist-feminist-manifesto/

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