Gegen den Pandemierevisionismus

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By Paul Schuberth

Die Pandemie sei vorbei, so plappern viele Medien. Jetzt sei COVID-19 ja endemisch, und daher nicht mehr bedrohlich. Sogar die Weltgesundheitsorganisation WHO habe das gesagt. Also kehren wir alle zurück zu „normal“, was Bundeskanzler Karl Nehammer schon als Schnitzelessen ohne Gewissensbisse und unbegrenztem Bargeldbesitz definiert hat.

Das ist alles falsch. Die WHO hat den Gesundheitsnotstand für beendet erklärt, nicht aber die Pandemie. Diese hat nach wie vor erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit. Wenn sich das Virus regional begrenzt ausbreitet und dort die Durchimpfungsraten hoch sind, sprechen die Expert:innen von einer Endemie. Als solche sind die Varianten des Covid-19 Virus indes nicht weniger gefährlich geworden. Am und mit dem Virus gestorben wird weiterhin. Die Normalität ist nur eine (politisch geschaffene) Illusion.

Semiosis-Autor Paul Schuberth setzt sich in seinem Beitrag mit den vielen falschen Aspekten des Pandemie-Revisionismus auseinander, der uns medial begegnet, wenn die Zeit von 2020 bis 2022 vorgeblich „aufgearbeitet“ wird.


Pandemie-Nachbetrachtungen – auf welcher Basis eigentlich?

Vom „Falter“, über „Die Presse“, bis zu „Heute“: In allen wesentlichen Zeitungen des Landes wurden und werden Pandemie-Nachbetrachtungen veröffentlicht.

Das ehrenwerte Motiv, die Corona-Maßnahmen zu evaluieren, um bei der nächsten Pandemie effektiver handeln zu können, steht dabei nicht infrage. Das fast einstimmige, implizite Ergebnis überrascht dennoch: Der Staat habe mit seinen Maßnahmen übers Ziel hinausgeschossen, quasi „zu viel“ Gesundheitsschutz autoritär verordnet, so der Tenor.

So seien beispielsweise die Schulschließungen ein großer Fehler gewesen sowie alle weiteren Lockdowns nach dem ersten übertrieben, die Impfpflicht kontraproduktiv und die Maskenpflicht nicht immer notwendig gewesen. Diese Einschätzungen sind, in Anbetracht der nackten Zahlen – mehr als 22.000 Tote in Österreich und viele, viele Langzeitgeschädigte –, zumindest kühn zu nennen. Auffällig ist, dass sich aktuell die unabhängige journalistische Kritik an staatlichen Entscheidungen mit der staatlichen Selbstkritik deckt; Interviews mit reuigen Ministern, nicht ohne Seitenhiebe auf Expert:innen in Beratungsfunktion, sind en vogue. Es können sich doch kaum beide irren?

Verdrehte Maßstäbe der Evaluierung

Zumindest Journalist:innen sind doch einer gewissen Sorgfalt und wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet, oder? Wie man es dreht und wendet: Diese Objektivität bleibt eine des kapitalistisch-instrumentellen Denkens. Die Evaluierung erfolgt nicht im Hinblick darauf, wie der Einzelne möglichst gesund durch die Pandemie hätte kommen können. Sondern im Hinblick darauf, wie die Volkswirtschaft mit noch weniger Schäden und Einschränkungen diese Zeit überstehen hätte können. Diese Art der Aufarbeitung folgt dabei demselben Interesse, das auch das Management der Maßnahmen bestimmte. Vielen Entscheidungsträger:innen mag der grundsätzliche Schutz der Bevölkerung ein ehrliches Anliegen gewesen sein. Doch das berührt kaum die „streng-materialistische“ Analyse, dass der Gesundheitsschutz „bloß“ ein notwendiger Nebeneffekt war. Ein Effekt dessen, die arbeitende Bevölkerung en gros fit zu halten, damit der Prozess der Verwertung der Arbeitskraft nicht nennenswert eingeschränkt wird.

Die arbeitende Bevölkerung?

Man muss sich vor Augen führen, wer nicht in die Kategorie „arbeitende Bevölkerung“ fiel: ältere und kranke Menschen in Pflegeheimen, oft ohne die Möglichkeit, sich im Krankheitsfall gut zu isolieren; Insassen von Justizanstalten in Gemeinschaftszellen; Geflüchtete in Asylheimen, in denen wirksamer Infektionsschutz oft nicht möglich war; psychisch schwer erkrankte Menschen, für die das Einhalten der wichtigsten Maßnahmen zum Eigenschutz mitunter nicht umsetzbar war; Obdachlose, die sich zwischen der Kältegefahr draußen oder der Infektionsgefahr in überfüllten Notunterkünften entscheiden mussten.

Alle diese Menschen haben ein – in unterschiedlichem Ausmaß – erhöhtes Risiko für Infektion, Hospitalisierung und Tod. Kaum bekannt ist, dass das Sterberisiko für Menschen mit geistigen Behinderungen ebenso erhöht ist wie für Menschen mit einer Schizophrenie-Erkrankung (2-faches Risiko) und Menschen mit dem Down-Syndrom (hier wird ein bis zu 10-fach erhöhtes Risiko kolportiert).

Ebenfalls schlechteren Schutz fanden Menschen, deren Arbeitskraft als leichter ersetzbar gilt: Arbeiter:innen in sogenannten „unqualifizierten“ Jobs wie Lagerarbeit – eine Amazon-Niederlassung in Norddeutschland verbot der Belegschaft das Tragen von FFP2-Masken mit der Begründung, die Arbeitsleistung sei so eingeschränkt – und Arbeitsmigrant:innen in der Erntehilfe oder im Schlachthaus, die oft in beengten Sammelunterkünften wohnen mussten. Teilweise griff hier, zumindest in Deutschland, auch die legale Praxis der Arbeitsquarantäne: Im Krankheitsfall galt für die Betroffenen zwar grundsätzlich Quarantänepflicht, allerdings mit Ausnahme des Arbeitseinsatzes – um den deutschen Spargel zu retten oder um rechtzeitig die geschlachteten Schweine auszunehmen.

Implizit völkische Aspekte der Pandemiepolitik

Es bedeutet keine Polemik im Übermaß, den Begriff „arbeitende Bevölkerung“ mit dem Begriff „Volk“ zu übersetzen: So werden die implizit völkischen Aspekte der herrschenden Pandemiepolitik erkenntlich. Implizit deswegen, weil der völkische Charakter dieser Politik keiner ausformulierten Ideologie, sondern kapitalistischen Zwängen entspringt. Die krassesten Verbalisierungen der Ideologie – „es sterben doch eh nur die Alten!“, „Vulnerable können nicht eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft nehmen“ und ähnliches, … – sind nur eine Folge der Notwendigkeit, diese Zwänge zu rechtfertigen, zu naturalisieren.

Personen mit hohem Risiko eines schweren Verlaufes sind heute mitunter noch drastischer gefährdet als zu den Hochzeiten der Pandemie; der Erfolg von „Eigenverantwortung“ wird nach Abschaffung aller Maßnahmen, bei gleichzeitig aber hoher Inzidenz, zu einem Glücksspiel. Hier ein aktuelles Beispiel aus Niederösterreich.


Mit Recht sprechen politische Beobachter:innen hier von einer Realität der praktischen Eugenik. Diese folgt – noch – keinem Programm, doch sie begünstigt den Publikumserfolg radikalerer Vorstellungen: Um den Yale-Professor Yusuke Narita, der das „Demografie-Problem“ in seinem Herkunftsland Japan mit Massensuiziden Älterer zu lösen vorschlägt, herrschte ein regelrechter Hype.

Das neue Normal

Linke Ideologiekritik stellt unaufgeregt fest, dass die vorherrschende Form der Maßnahmen-Evaluierung nicht im Interesse der Gesundheit der sogenannten Schwächsten der Gesellschaft geschieht, sondern im Sinne einer Wiederherstellung „gesunder“ gesellschaftlicher Normalität. Doch zu diesem Punkt, der rationalen Interpretation innerhalb einer eigenen Logik, mischt sich Irrationales: Verdrehungen, absichtliche Fehlinterpretationen von Studien, Auslassung, sowie schlichtweg Lügen. Aber wozu wäre das notwendig?

Die herrschende Politik der Mehrfachdurchseuchung

Die Antwort ist in der Gegenwart zu suchen. Auch wenn die Feststellung eines Übergangs in eine endemische Phase fachlich korrekt sein mag: Die Bedrohungslage bleibt aufrecht. Ende 2022 gab es in Deutschland mit annähernd 40 % die höchste Übersterblichkeitsquote seit Beginn der Pandemie; in manchen Ländern starben 2022 mehr Menschen an den direkten Folgen der Krankheit als jeweils in den beiden Jahren zuvor (Kanada); die Forschung über Langzeitschäden der Infektion macht große Fortschritte und zeitigt erschreckende Ergebnisse: mögliche Schädigungen des Immunsystems, des Herzens, des Gehirns, der Lunge, des Nervensystems, erhöhtes Risiko für Schlaganfälle, Herzinfarkte und z.B. Diabetes – auch bei Kindern. Studien deuten darauf hin, dass das allgemeine Risiko für Langzeitschäden bei Reinfektionen steigt.

Die Übersterblichkeit dürfte nicht mehr hauptsächlich auf akute COVID-19-Fälle zurückgehen, sondern auf Spätfolgen. Wird nun im seriös-journalistischen wie im staatlichen Rückblick nicht das massenhafte Sterben beklagt und aufgearbeitet, sondern werden die „überschießenden Maßnahmen“ verteufelt, kann die gegenwärtige gemeingefährliche Mehrfachdurchseuchungs-Politik als ein Segen für die Bevölkerung erscheinen.

Versöhnung mit einer Ideologie, die das frühe Sterben begrüßt?

Wenn Bundeskanzler Karl Nehammer den Coronaleugnern ein Angebot zur Versöhnung macht, anstatt Langzeitgeschädigte oder Angehörige von Todesopfern um Verzeihung zu bitten, heißt das auch: eine Geisteshaltung, die das vermehrte und zu frühe Sterben von Alten, Kranken, Behinderten begrüßt, in vollem Ausmaß zu rehabilitieren. Das ist schließlich notwendig, da anderenfalls die Regierung in einer Realität, wie sie Coronaverharmloser kaum glücklicher machen könnte, in Erklärungsnot kommen würde. Wären Masken die vergangenen Jahre nicht als Symbol der Gängelungen gebrandmarkt, sondern als ein Mittel der Freiheit gepriesen worden, wäre es heute ein Leichtes, wenn schon nicht ZeroCovid, so doch eine sicherere Umgebung für Hochgefährdete zu erreichen. Luftfilter in öffentlichen Gebäuden, Schulen, Kindergärten wären eine notwendige Ergänzung. Doch ist genau das nicht passiert.

Hier zeigt sich aber die Wechselwirkung zwischen dem „Pandemierevisionismus“, der sich auf die vergangenen Jahre bezieht, und dem heutigen offiziellen Leugnen der Gefahr. Bittet man bei Maßnahmengegnern um Nachsicht dafür, dass in den vergangenen Pandemiejahren nicht noch mehr Menschen unnötig gestorben sind, ist es unmöglich, in der aktuellen Übersterblichkeit durch COVID-19 und Langzeitfolgen noch einen Skandal zu erkennen.

Inwieweit waren die Maßnahmen eigentlich autoritär?

Umgekehrt: Wird das „postpandemische“ unnötige Sterben normalisiert, erscheint dem gesunden Menschenverstand die Priorisierung von wirtschaftlichen Überlegungen vor konsequentem Gesundheitsschutz als einzig logische Option. Arbeiten wir uns kurz vom Kompliziertesten bis zum Einfachsten vor: vom kritischen, linken Pandemierevisionismus bis zur Korrektur von verbreiteter Desinformation. Zu ersterem gehört die Behauptung, das Verordnen von Lockdowns und Maskenpflicht wäre in der Essenz autoritär gewesen. Die linke Intuition lag richtig, kritisierte dann aber meist das Falsche. Autoritäres lag im Auftreten und der Selbstinszenierung der damaligen Regierungsmitglieder, die den Erfolg des ersten Lockdowns in eine nationale Erfolgsgeschichte einflochten. Doch meist wurde in der Linken so argumentiert: Das Autoritäre liege darin, dass mit den Mitteln der Grundrechtseinschränkungen und Schulschließungen undemokratisch zu weit gegangen wurde, um das Ziel des Gesundheitsschutzes zu erreichen.

Eher autoritär aber war, mit der bloßen Behauptung einer harten Seuchenbekämpfung Zustimmung zu einer Politik zu ergattern, die vor allem die weitere Funktionsfähigkeit der Bevölkerung gewährleisten sollte. Nicht autoritär im landläufigen Sinn, da mit den Prinzipien der bürgerlichen Demokratie vereinbar, scheint die ungeschriebene Infektionspflicht. Selbst rebellisches Blaumachen von Schule oder Arbeit bietet heute keinen Ausweg mehr. Die Orte, an denen man sich selbstermächtigend von krankmachender Arbeit erholen könnte (also Kino, Gasthaus, Theater, Konzert) machen selber krank.

Aber es ist – mit linker Mithilfe – gelungen, die totalitären und autoritären Aspekte des realen „TotalCovid“ in ZeroCovid-Vorschläge zu projizieren. ZeroCovid ging es nie um einen ewigen Lockdown, nie darum, „alle ewig wegzusperren“. Im Gegenteil wäre eine konsequente Umsetzung auf weniger, aber auch auf weniger widersprüchliche Maßnahme hinausgelaufen. Die verschiedenen Niedriginzidenzstrategien beinhalteten kurze, wirksame Lockdowns, genaues Contact-Tracing, saubere Luft in Innenräumen, Gratis-FFP2-Masken, die richtig getragen werden, effizientes Testwesen – um weitere Lockdowns und Schulschließungen zu verhindern.

Wessen psychische Gesundheit?

Ein weiterer Punkt ist die Behauptung, man sollte die (psychische) Gesundheit der Kinder gegen die Gesundheit der sogenannten „Vulnerablen“ – eine Kategorie, die anfangs Schutz versprach, aber mittlerweile wie eine Drohung für die Betroffenen klingen muss – aufrechnen. Hätte man die dahinterliegenden Vorstellungen von Anfang an verfolgt, hätte das wohl geheißen: die Gesundheit der Kinder in noch größerem Ausmaß zu gefährden, damit die Alten früher sterben können. Die Behauptung, COVID-19 sei für Kinder und Jugendliche im Grunde nicht gefährlich, wird einerseits bereits durch die 2122 COVID-19-bedingten Todesfälle bei Kindern und Jugendlichen in den USA (ca. 0,4 % aller Todesfälle) widerlegt, andererseits aber durch unzählige Studien, die die Langzeitfolgen bei Jüngeren untersuchen.

Die Krankheit hat unter anderem für Kinder und Jugendliche in ihrem Angebot: anhaltend erhöhtes Risiko für Hirnblutungen, ischämische Schlaganfälle, Psychosen, kognitive Störungen, Insomnie, Enzephalitis, Nerven-/Nervenwurzel-/Plexusschädigungen, Epilepsie und Krampfanfälle, für Nierenversagen, für Diabetes und für Myokarditis. Nun könnte man argumentieren: Diese Folgen sind als kleineres Übel gegenüber den unfassbaren möglichen psychischen Schäden, die eine wirklich strenge Eindämmungsstrategie gezeitigt hätte, zu akzeptieren.

Alles falsch!

Man kann so viel gar nicht richtigstellen wie daran falsch ist. Zunächst: Nie die Schulen zu schließen, ist keine Garantie für eine einwandfreie psychische Gesundheit der Kinder. In Schweden etwa hat selbstverletzendes Verhalten bei Mädchen während der Pandemiejahre signifikant zugenommen – als nur ein Beispiel dafür, dass sich auch die psychische Gesundheit der Kinder in Schweden verschlechterte. Schulschließungen, die mit gutem Grund erfolgen, per se zu verteufeln, heißt auch, den „Wunsch“ der Jüngeren nach krankmachendem Leistungsdruck zu einer anthropologischen Konstante zu erklären. Die ungleichen sozialen Folgen der Schulschließungen, wie deren unterschiedliche Einwirkungen auf individuelle Lernerfolge, werden in dieser Vorstellung nicht einer unsozialen Politik angelastet, sondern dem „überbordenden“ Gesundheitsschutz. Nicht die Schulschließungen, sondern das Aufrechterhalten der Konkurrenz und des Notendrucks, die Normalitätssimulation um jeden Preis in einer Ausnahmesituation, waren die Katastrophe.

Lieber Großvater schützen als „nicht mehr mitkommen“?

Was muss es in einem Kind anrichten, dass suggeriert wurde, den eigenen Großvater zu schützen hieße, selbst den „Anschluss zu verpassen“, „nicht mehr mitzukommen“, oder bei besonders engagierten Eltern, „die Karriere versaut zu bekommen“?

Weiters: Wie oben gezeigt, hätten konsequentere Eindämmungsstrategien gar nicht auf längere Schul-Lockdowns gesetzt. Eine Studie (Lara B Aknin, PhD et. al., The Lancet, April 2022) ergab, dass die psychische Gesundheit insgesamt in solchen Ländern besser blieb, die frühzeitig kluge und strikte Maßnahmen ergriffen, um auf Containment statt auf langsamere Ausbreitung hinzuarbeiten und um so später weniger Maßnahmen setzen zu müssen.

In Neuseeland etwa, das lange ein Zero-Covid-Land war, nahm die Zahl der Suizide in allen Altersgruppen während der Pandemie ab. Nun habe ich argumentiert, dass Schulschließungen zwar nicht per se, aber jedenfalls im Kapitalismus gefährlich sind. Doch vielleicht unterschätze ich, dass manche Kinder Mobbing in der Schule, oder das Ausgeliefertsein an eine potentiell autoritäre Institution als schlimmer empfinden als beengte Familienverhältnisse zuhause?

Neueste Studienergebnisse (Benjamin Hansen et. al., Cambridge 2022) zeigen: In den USA sank die Suizidrate unter Jugendlichen im ersten Lockdown; der Wechsel von Online- zu Präsenzunterricht im Herbst 2020 und Frühling 2021 war mit einem 12- bis 18-prozentigen Anstieg der Suizidrate verknüpft.

Bewusste Desinformation zur Übersterblichkeit

Kommen wir nun zur Kritik der bewussten Desinformation. Aktuell sind Daten zur Übersterblichkeit fast nur mehr aus den Jubelmeldungen der Rentenkassen, dass die erhöhte Sterblichkeit ihre Budgets entlaste, herauszulesen. Denn auch die statistische Normalisierung des aktuellen „überschüssigen“ Sterbens ist in vollem Gange: Das Schweizer Bundesamt für Statistik etwa veränderte bereits die Berechnungsgrundlage für das Jahr 2023, sodass das eigentlich außerordentliche Jahr 2022 nun als herkömmliches Jahr bei der Modellierung der Prognosen berücksichtigt wird. Für die erste Woche des aktuellen Jahres prognostizierte das BFS etwa um zehn Prozent mehr Todesfälle als für die erste Woche des Jahres 2022. So verschwindet ein Gutteil der Übersterblichkeit aus der offiziellen Statistik.

Die Immunschuldthese

Der Immunschuldthese – dem Mythos also, dass nicht die Immunsystem-Schädigung infolge der Durchseuchung, sondern die Lockdowns und Maskenpflicht für die massiven Infektionswellen mit anderen saisonalen Erregern im Herbst 2022 verantwortlich waren – wurde immerhin halbwegs prominent entgegengetreten. Nur so viel: Sie verleitete und verleitet Menschen dazu, Maskenträger mit noch weniger schlechtem Gewissen zu verachten und anzupöbeln. Vor kurzer Zeit noch resultierte die Verachtung eher aus der Abwehr des Gedankens, dass man auch sich selbst und seine Liebsten immer noch schützen können sollte; heute sind Maskenträger als Egoisten gebrandmarkt, die das kollektive Immunsystem weiterhin belasten.

Die zu teure österreichische Teststrategie?

Heikel ist auch der Widerspruch gegen Falschbehauptungen, die von Studienergebnissen und Datenlagen unterstützt zu werden scheinen. Die vorbildhafte österreichische (vor allem Wiener) Teststrategie, auch Symptomlosen überall und schnell freien Zugang zu Antigen- wie PCR-Tests zu gewähren, stand immer unter Beschuss. Die großen Summen an Steuergeld seien sinnlos eingesetzt, da die Strategie insgesamt keinen Einfluss auf die Infektionszahlen habe. Übergangen wird der große Benefit für Einzelne: Durch das freiwillige Testen können zum Beispiel im Privaten wesentlich sicherere Settings für Ältere, Kranke oder einfach vorsichtigere Menschen geschaffen werden.

Triage in den Krankenhäusern

Es gebe keine Triage, lautete die scheinbar sicherer Information. Ein offizielles Dokument des Instituts „Gesundheit Österreich“ widerspricht. In ihm heißt es, dass die erhöhte Systembelastung vor allem während der zweiten Welle auch bei der Analyse der Entwicklung der Sterbeorte sichtbar sei, würden für diesen Zeitraum doch nur 21 % aller COVID-19 assoziierten Sterbefälle einen Aufenthalt auf einer Intensivstation (ICU) aufweisen. In anderen Zeiträumen seien es bis zu 40 % gewesen.

In der zweiten Welle wurde also nicht allen, die sie gebraucht hätten, eine Intensivbehandlung zuteil.

War der letzte Lockdown im November 2021 eine Ehrenrunde?

Zum Abschluss noch ein Beispiel unter vielen für journalistische Desinformation im Rahmen der sogenannten „Aufarbeitung“:

Die letzte Ausgangssperre Ende 2021 kann man überhaupt als ‚Ehrenrunde‘ bezeichnen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Bevölkerung schon ausreichend Immunität aufgebaut, um mit milderen Maßnahmen durchzukommen.

https://threadreaderapp.com/thread/1633957602475245568.html

Es ist die Stadtzeitung „Falter“, der hier eine pandemierevisionistische Ehrenrunde dreht und mehr lügt, mehr als eigentlich notwendig wäre, um den Zorn der Menschen auf den Gesundheitsschutz zu richten. Eine Ausgangssperre gab es nie. Und: Nur um den persönlichen Grad der Verrohung einschätzen zu können, wäre es einmal hilfreich, Journalist:innen würden ihren Maßstab offen legen, ab wie vielen Toten und Langzeitgeschädigten eine Bevölkerung ihrer Einschätzung zufolge „gut durchkommt“?

Wir können uns mit einem Beitrag der Nachrichtenagentur APA dieser Zeit erinnern:

LINZ. Die vierte Corona-Welle hat die Spitäler in Oberösterreich fest im Griff. (…) Von Sonntag auf Montag waren laut einer Insiderin in einem Krankenhaus so viele Todesfälle, dass die Prosektur nach einer Nacht am Limit war. ‚Die Leichen mussten wegen Überfüllung am Gang abgestellt werden‘, schilderte zum Beispiel Pflegefachkraft Monika (Name von der Redaktion geändert) im APA-Gespräch die aktuellen Zustände. (…) Die Arbeitsbelastung in der vierten Welle merkt sie deutlich. (…) Stationen sind geschlossen, um Belegschaft freizuspielen für die Corona-Abteilung. Andere Belegschaften werden ausgedünnt. (…) ‚Es brennt und du nimmst keinen Feuerlöscher, sondern Benzin‘, sagt sie. (…) ‚Mit Covid schwimmen wir total.‘ Triagen, die zwischen Leben und Tod entscheiden können, erlebe sie hautnah mit.

https://www.derstandard.at/story/2000131209032/oberoesterreichs-spitaeler-am-limit-leichen-wegen-ueberfuellung-am-gang-abgestellt

Warum werden in Schulen eigentlich keine Luftfilter installiert?

Zu guter Letzt ist natürlich auch zum Pandemierevisionismus zu rechnen, dass die aktive Verhinderung (!) der Installation von Luftfiltern in den Schulen medial kaum thematisiert wird. Auch der Widerspruch, dass die Kindergärten und Schulen Infektionsherde bleiben, aber etwa beim Weltwirtschaftsforum in Davos Anfang 2023 strengste Sicherheitsvorkehrungen herrschten, findet keine Erwähnung. Dieser Revisionismus darf von linker Seite nicht unwidersprochen bleiben. Denn Indifferenz heißt Zustimmung zu einer folgenreichen Irrationalität: Ob eine Pandemie beendet ist, soll offenbar nicht an Infektions-, Hospitalisierungs- und Todesfällen ablesbar sein, sondern an der Anzahl der Flugreisen und Massenevents.


Titelbild: Von Raphaël Dunant, Gajmar (maintainer),幺于 (maintainer) – Latest versions: https://ourworldindata.org/explorers/coronavirus-data-explorer?tab=map&Metric=Confirmed+cases&Interval=Cumulative&Relative+to+Population=true&Align+outbreaks=false&country=~OWID_WRL – Our World in Data. Click on the download tab to download map. The table tab has a table of the exact data by country. Source tab says data is from the COVID-19 Data Repository by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University. The map at the source is interactive and provides more detail. For example, run your cursor over the color bar legend to see the countries that apply to that point in the legend.Older versions:Eigenes WerkData from Wikipedia English (e.g. Template:COVID-19 pandemic data and List of countries and dependencies by population).Blank maps from File:BlankMap-World.svg and File:Blank Map World Secondary Political Divisions.svg., CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=88208245

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