Als die Geschäfte in Mattersburg sonntags noch offen waren

Foto des Autors

By Sebastian Reinfeldt

Es ist ein bekanntes Kuriosum, dass es den Ort Mattersdorf zwei Mal gibt: Ein Mal im Burgenland, seit 1928 unter dem Namen Mattersburg (oder Nagymarton), und ein zweites Mal im Norden Jerusalems unter dem Namen Kirjat Mattersdorf. Letzteres wurde 1948 vom letzten Mattersdorfer Oberrabiner Samuel Ehrenfeld gegründet. Er musste wie alle Jüdinnen und Juden seine Heimatstadt verlassen. Die „Mattersdorfer Gelehrsamkeit“ der Talmud-Hochschule aus Österreich verbreitet sich jetzt durch seinen Enkel Isaak Ehrenfeld im nah-fernen Israel.

Bereits am 8. Oktober 1938 verkündete nämlich die Kleine Volks-Zeitung voller Stolz, dass Mattersburg nunmehr „judenfrei“ sei. Etwa 530 Jüdinnen und Juden wurden in kürzester Zeit aus ihrer Heimat vertrieben, und das noch vor den November-Pogromen 1938. Mehr als 100 Mattersburger jüdischen Glaubens kamen später in den Konzentrationslagern um. Diese Lücke in der Stadt ist bis heute auch architektonisch sichtbar. Etwa dort, wo heute „das“ Mattersburger Hochhaus steht, befand sich die ehemalige Synagoge, die von den Nazis im September 1940 (wahrscheinlich samt einiger umliegender Häuser) weggesprengt worden war. Auch die Erinnerung an die jüdische Geschichte der Stadt sollte gewaltsam ausgelöscht werden, nicht nur ihre jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner. Lange Zeit blieb das Gelände rund um die ehemalige Synagoge Brachland. Heute lebt kein einziger Jude und keine einzige Jüdin mehr in der Stadt. Der Mattersburger Verein Wir erinnern setzt diesen österreichischen NS-Gewalttaten Erinnerungswege entgegen. Sebastian Reinfeldt ist einen solchen Weg mitgegangen.


Nazi-Karrieren nach dem Krieg – die Opfer blieben der Stadt fern

„Im Zeichen der Erlösung von der Judenplage ließ der Ortsgruppenleiter und Bürgermeister unter Teilnahme der jubelnden Menge auf dem ehemaligen Judentempel eine weiße Fahne hissen.“ Bereits diese Passage aus dem Artikel der kleinen Volks-Zeitung vom 8. Oktober 1938 macht deutlich, dass hier die üblichen Ausreden à la „Wir haben das mit den Juden nicht gewusst“ nicht gelten können. Der eingesetzte Bürgermeister war der 1904 geborene,glühende Nazi Franz Giefing. Nach dem Krieg wurde er zu 5 Jahren Kerker verurteilt, aber bald freigelassen. Zudem wurde seine Strafe 1957 – ebenso wie die des Gauleiters Tobias Portschy – durch die NS-Generalamnestie in Österreich getilgt. Letzterer – außerdem von Bundespräsident Theodor Körner begnadigt – lebte im Burgenland nach der NS-Zeit noch als angesehener Bürger des Landes. Er wurde Obmann des Fremdenverkehrsverbands seines Heimatortes Rechnitz und Aufsichtsratspräsident der dortigen Spar- und Kreditbank. Seine Partei: Die FPÖ. Noch 1978 soll sich der ehemalige SS-Oberführer Portschy in einer flammenden Rede „uneingeschränkt zum Führer“ bekannt haben, berichtet Anna Mayer-Benedek.

1938: ein jubelnder, antisemitischer Mob

Die jubelnde Menge im Oktober 1938, von der berichtet wird, und die vielen jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner im Zentrum der Stadt, die ja „plötzlich“ nicht mehr da waren – beides gehört zur Geschichte der Stadt. Im Stadtbild sichtbar ist davon wenig, und wenn, dann ist es mitunter falsch. So etwa der Gedenkstein an die Zerstörung der Synagoge. Er steht nicht nur am falschen Platz, sondern er hat auch einen unrichtigen Text. Die Spuren der jüdischen Geschichte werden durch private Initiativen festgehalten. Akribisch haben die Mitglieder von Wir erinnern die Geschichte einzelner Häuser recherchiert und versucht, die wenigen Spuren des reichen jüdischen Lebens in Mattersburg sichtbar werden zu lassen. Es ist dabei schwer vorstellbar, dass das Zusammenleben in Mattersburg vor 1938 weitgehend harmonisch verlaufen ist, und dass sich der antisemitische Mob vollkommen überraschend zusammengerottet hat, um sein grausiges Werk zu verrichten. Hier muss noch einiges an Forschungsarbeit aufgewendet werden, um diese besonders streberhafte „Judensäuberung“ in Mattersburg aufzuklären.

Tatsache ist: Mattersburg war eine jüdische Stadt

Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts war nicht nur das ökonomische Leben in Mattersburg jüdisch geprägt. Von den rund 35 Prozent der jüdischen Stadtbewohner, die 1828 gezählt worden waren, verließen zwar mit der Zeit einige die Stadt. Aber es blieben noch genug, die im Zentrum des Ortes lebten und arbeiteten. Anna Mayer-Benedek fächert die folgenden jüdischen Geschäftszweige auf: Zwei Kolonialwarengeschäfte, 2-3 Eisen- und Baumaterialhandlungen, 8-10 Gemischtwarenhandlungen, 7-9 Schnittwarenhandlungen, 4 Galanterie- und Wirkwarenhandlungen, 2 Kleidergeschäfte, zwei Ledergeschäfte, 3 Schuhgeschäfte, zwei Möbelhandlungen, zwei Papiergeschäfte, eine Bettfedernhandlung, ein Fischgeschäft, zwei Milchgeschäfte, ein Schnapsverschleiss, eine Trafik, ein bis zwei Tischlereien, ein bis zwei Uhrmacher- bzw. Juwelierwerkstätten, 4 Schneidereien, 1 Kürschnerei, eine Maschinenstrickerei, eine Sodawassererzeugung, 3-4 Schusterwerkstätten, 3 Buchdruckereien, eine Bettfederfabrik, eine Besenbinderei, 2 Fuhrwerksunternehmen und eine Spedition.

Sonntags geöffnet

Johann Gallis vom Verein Wir erinnern berichtet während des geführten Spaziergangs durch das heutige Mattersburg, dass die Judengasse damals das Mattersburger Einkaufszentrum gewesen war, auch für die BewohnerInnen der umliegenden Dörfer. Insgesamt über 60 Läden und Betriebe befanden sich rund um diese Gasse, so dass die Kundinnen und Kunden hier einfach alles bekamen, was sie wünschten. Am Sabbat waren die Läden natürlich geschlossen, dafür aber am Sonntag geöffnet. Deshalb konnten die Mattersburger KirchgeherInnen nach der Sonntagsmesse noch bequem einkaufen gehen, was sie auch gerne getan haben.

Die Mattersdorfer jüdische Feuerwehr

Hinzu kommen noch die speziell jüdischen Einrichtungen wie die Synagoge, die

SAMSUNG CAMERA PICTURES
Jüdischer Friedhof Mattersburg

berühmte Talmudschule, eine Volksschule der Friedhof und verschiedene Vereine, die das jüdische Leben Mattersburgs auch nach Außen hin prägten. Wenige Gebäude stehen noch. So das Schulgebäude, ferner das ehemalige Haus der Familie Isidor Deutsch, dann der Geschäfts- und Wohnsitz der Familie Brandl (die kurzzeitig zurück gekehrt waren, sich aber in Mattersburg nicht mehr wohl fühlten), das Haus der Textilwaren und Druckerei Schön und das der Druckerei und Buchbinderei Josef Kohn. Und schließlich am Hauptplatz 2 das Gebäude, in dem der bekannte Arzt Dr. Richard Berczeller seine Ordination hatte. Dieser berichtet in seinen Erinnerungen von der eigenständigen jüdischen Feuerwehr:

Obwohl die jüdische Gemeinschaft ein integrierter Bestandteil der Stadt war, hatte die jüdische Feuerwehr ihre mittelalterliche Autonomie behalten. Diese Feuerwehr erfreute sich des besten Rufes sowohl unter Juden als auch unter Nichtjuden. Wenn ein Feuer selbst in einem entlegenen Ort ausbrach, konnte man damit rechnen, daß die jüdischen Feuerlöscher zuerst hinkamen.

Nur historisches Erinnern ist nicht genug

Wie wird die Erinnerung an das zerstörte jüdische Mattersburg weiter gehen? Bis jetzt können nur historische Fotos und Erläuterungen das Stadtbild vor der Zerstörung wieder lebendig werden lassen – und die dokumentierten Zeitzeugenberichte. Dort, wo früher die Synagoge stand, soll bald eine Gedenkstätte entstehen, berichtet die Mattersburger Kulturstadträtin und Volksschul-Direktorin Rafaela Strauß (SPÖ) am Rande des Spaziergangs. In der Diplomarbeit von Veronika Schmid wird die Mattersburger Synagoge zumindest virtuell wieder sichtbar gemacht. Gegen diese Versuche spricht natürlich nichts. Aber Erinnerung, und das besonders in diesem Fall, muss manchmal auch weh tun, denn das Leid der Opfer der nationalsozialistischen Barbarei ist in Fotos kaum sichtbar zu machen. Von daher wäre zu überlegen, ob nicht auch in Mattersburg bald Stolpersteine in der Stadt errichtet werden könnten. Und zwar an den Orten, die bereits vom Erinnerungsweg erkundet werden. Dann aber erlebbar für alle diejenigen, die im heutigen „judenfreien“ Mattersburg unterwegs sind.

2 Gedanken zu „Als die Geschäfte in Mattersburg sonntags noch offen waren“

Schreibe einen Kommentar