Dokumentation: Putins neue Weltordnung

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By Redaktion Semiosis

Es scheint ein technisches Versehen gewesen zu sein. Oder passierte das doch nicht so zufällig? Wer weiß so etwas in Zeiten des Krieges schon? In mehreren russischen Staatsmedien (RIA Novosti und Sputnik) tauchte am Samstag ein verstörender Artikel auf, dessen Erscheinen möglicherweise für den programmierten Tag der Einnahme Kiews angesetzt war. Diese fand bislang nicht statt, der Text für kurze Zeit schon. Sein Autor ist Petr Akopov, ein rechtsnationaler Putin-Interpret, der auch bei der Nachrichtenagentur RIA arbeitet. Wir haben den Text nach der Sputnik-Version und einer englischen Fassung folgend ins Deutsche übersetzt. Er kann als eine halb-offizielle Interpretation und Rechtfertigung des Vorgehens Putins angesehen werden. Inhaltlich und vom Stil her ist es ein bedrohliches, kulturrassistisches Manifest, ein beängstigendes ideologisches Wahnbild. Das sich derzeit auf ukrainischem Boden militärisch in Form von Panzern, Raketen, Flugzeugen und Soldaten manifestiert.


Die Kernaussage: Putin hat die ukrainische Frage für immer gelöst

Bellingcat-Herausgeber Christo Grozev berichtete am Sonntag auf Twitter über den Essay des Rechtsaußen Kreml-Ideologen Petr Akopov. Er sollte offenbar nicht nur auf einer Sputnik-Webseite erscheinen, sondern auch auf der Seite der Kreml-Nachrichtenagentur RIA. Dort wurde der Text kurz nach Erscheinen wieder hastig vom Netz genommen. Er steht aber im Webarchiv zur Verfügung.

Ein ideologisches Manifest des neuen Russlands

Das Thema des bemerkenswerten Beitrags ist Russlands Invasion der Ukraine. Dabei stellt er (sich) die für Rassenideologen problematische Frage, dass und warum Russland sein Brudervolk überfallen habe. Die erste Antwort, die der Text gibt: Sie, die Ukraine, sei ja immer schon Russisch gewesen und Putin habe jetzt die Spaltung geheilt und überwunden. Seine zweite Antwort bezieht sich auf eine veränderte geopolitische Formierung und die imaginierte Rückkehr Russlands als Weltmacht und als Frontstaat sowie Gegenentwurf „zum Westen“. Es habe kein Vorposten und kein Anti-Russland vor der Haustüre des russischen Hauses akzeptieren werden können.

Also rechtfertigt dieser Text den Angriffskrieg nicht mit den üblichen oberflächlichen Propagandalügen inszenierter Hilferufe aus dem Donbas und aus Luhansk. Er verleiht dem Unternehmen Putins eine tiefe, und das bedeutet hier: völkische und durch und durch rassistische Fundierung. Da der Text nach der Einnahme Kiews in den Staatsmedien erscheinen sollte, ist er relevant. Zur besseren Lesbarkeit im Format unseres Blogs haben wir in Klammern Zwischenüberschriften eingesetzt. Das Original weist diese nicht auf.


Dokumentation: [Die neue Ära]

Eine neue Welt wird vor unseren Augen geboren. Russlands Militäroperation in der Ukraine hat eine neue Ära eingeläutet – und das gleich in drei Dimensionen. Und natürlich in einer vierten, Russisch internen. Hier beginnt eine neue Periode sowohl in der Ideologie als auch im Modell unseres sozioökonomischen Systems – über letzteres lohnt es sich etwas später in einem gesonderten Beitrag zu sprechen.

[Die Einheit Russlands]

Russland stellt seine Einheit wieder her – die Tragödie von 1991, diese schreckliche Katastrophe unserer Geschichte, seine unnatürliche Verwerfung [dislocation], ist überwunden. Ja, um einen hohen Preis, ja, durch die tragischen Ereignisse eines virtuellen Bürgerkriegs, denn jetzt schießen Brüder, getrennt durch die Zugehörigkeit zur russischen und der ukrainischen Armee, immer noch aufeinander, aber es wird keine Ukraine mehr als eine Anti- Russland geben. Russland stellt seine historische Fülle wieder her, versammelt die russische Welt, das russische Volk – in seiner ganzen Gesamtheit von Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen.

[Anmerkung: Kleinrussland ist ein historischer Name für Teile der südwestlichen Rus, hauptsächlich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Großrussland (Ruthenien) ist das Gegenstück für die nordöstliche Rus. – Semiosis-Redaktion]

Wenn wir dies aufgegeben hätten, wenn wir zugelassen hätten, dass die vorübergehende Teilung Jahrhunderte lang Bestand hat, dann würden wir nicht nur die Erinnerung an unsere Vorfahren verraten, sondern würden auch von unseren nachkommenden Generationen verflucht werden, weil wir den Zerfall des russischen Landes zugelassen haben.

[Putin hat die Lösung der Ukraine-Frage übernommen]

Wladimir Putin hat ohne Übertreibung eine historische Verantwortung übernommen, indem er entschieden hat, die Lösung der Ukraine-Frage nicht künftigen Generationen zu überlassen. Schließlich würde die Notwendigkeit, sie zu lösen, immer das Hauptproblem für Russland bleiben – aus zwei Hauptgründen. Dabei ist die Frage der nationalen Sicherheit, das heißt, die Schaffung eines Anti-Russland der Ukraine und eines Außenposten für den Westen, um auf uns Druck auszuüben, nur der zweitwichtigste unter ihnen.
Der erste wäre immer der Komplex eines geteilten Volkes, der Komplex der nationalen Demütigung – als das russische Haus zuerst einen Teil seiner Fundamente (Kiew) verlor und dann gezwungen war, sich mit der Existenz von zwei Staaten abzufinden, nicht nur einem, sondern zwei Völkern. Das heißt, entweder ihre Geschichte aufzugeben und den wahnsinnigen Versionen zuzustimmen, dass „nur die Ukraine das wahre Russland ist“, oder hilflos mit den Zähnen zu knirschen und sich an die Zeiten zurück zu erinnern, als „wir die Ukraine verloren haben“.

Die Ukraine zurückzugeben, also an Russland zurückzuverwandeln, würde mit jedem Jahrzehnt schwieriger werden – das Umkodieren, das Ent-Russifizieren der Russen und das Aufhetzen ukrainischer Kleinrussen gegen Russen würden an Dynamik gewinnen.

[Die Ukraine ist nach Russland zurückgekehrt]

Jetzt ist dieses Problem weg – die Ukraine ist nach Russland zurückgekehrt. Das bedeutet nicht, dass seine Staatlichkeit liquidiert wird, aber er wird reorganisiert, wiederhergestellt und in seinen natürlichen Zustand als ein Teil der russischen Welt zurückgeführt. An welchen Grenzen, in welcher Form wird das Bündnis mit Russland fixiert (über die OVKS und die Eurasische Wirtschaftsunion oder den Unionsstaat Russland samt Weißrussland)? Dies wird entschieden, nachdem die Geschichte der Ukraine als Anti-Russland beendet worden ist. Auf jeden Fall geht die Zeit der Spaltung des russischen Volkes seinem Ende zu.

[Der Westen sieht die Rückkehr Russlands zu seinen historischen Grenzen in Europa]

Und hier beginnt die zweite Dimension der kommenden neuen Ära – sie betrifft die Beziehungen Russlands zum Westen. Nicht nur Russland, sondern die russische Welt, also die drei Staaten, Russland, Belarus und die Ukraine, agieren geopolitisch gesehen als Ganzes. Diese Beziehungen sind in eine neue Phase eingetreten – der Westen sieht die Rückkehr Russlands zu seinen historischen Grenzen in Europa . Und er empört sich laut darüber, obwohl er sich im Grunde seiner Seele eingestehen muss, dass es nicht anders sein könnte.

[Schon vor fünfzehn Jahren konnten sogar Gehörlose hören – Russland kehrt zurück]

Hat jemand in den alten europäischen Hauptstädten, in Paris und Berlin ernsthaft geglaubt, dass Moskau Kiew aufgeben würde? Dass die Russen für immer ein gespaltenes Volk sein werden? Und gleichzeitig, wenn Europa sich vereint, wenn die deutschen und französischen Eliten versuchen, die Kontrolle über die europäische Integration von den Angelsachsen zu übernehmen und ein vereintes Europa aufzubauen? Vergessen, dass die Einigung Europas erst durch die Einigung Deutschlands möglich wurde, was nach gutem russischen (wenn auch nicht sehr schlauen) Willen geschah. Danach russischem Boden zu stehlen [to swipe on Russian lands], ist nicht einmal der Gipfel der Undankbarkeit, sondern der geopolitischen Dummheit. Der Westen insgesamt – und mehr noch Europa im Besonderen – hatte nicht die Kraft, die Ukraine in seinem Einflussbereich zu halten und erst recht die Ukraine für sich zu nehmen. Um das nicht zu verstehen, musste man einfach geopolitische Narren sein.
Genauer gesagt gab es nur eine Option: auf den weiteren Zusammenbruch Russlands, also der Russischen Föderation, zu setzen. Aber dass es nicht funktionierte, hätte schon vor zwanzig Jahren klar sein müssen. Und schon vor fünfzehn Jahren, nach Putins Münchener Rede, konnten sogar Gehörlose hören – Russland kehrt zurück.

[Kein noch so großer westlicher Druck auf Russland wird zu irgendetwas führen]

Jetzt versucht der Westen, Russland dafür zu bestrafen, dass es zurückgekehrt ist, weil es seine Pläne, auf seine Kosten zu profitieren, nicht gerechtfertigt hat, weil es die Erweiterung der westlichen Sphäre nach Osten nicht zugelassen hat. Um uns zu bestrafen, denkt der Westen, dass die Beziehungen zu ihm für uns von entscheidender Bedeutung sind.

Aber das war schon lange nicht mehr der Fall – die Welt hat sich verändert, und diese Tatsache verstehen nicht nur die Europäer, sondern auch die Angelsachsen, die den Westen beherrschen. Kein noch so großer westlicher Druck auf Russland wird zu irgendetwas führen. Die Verluste durch die Sublimierung der Konfrontation werden auf beiden Seiten sein, aber Russland ist moralisch und geopolitisch darauf vorbereitet. Allerdings verursacht die Intensivierung der Konfrontation für den Westen selbst enorme Kosten – die wesentlichsten sind in keinem Fall wirtschaftlicher Natur.
Europa als Teil des Westens wollte Autonomie – das deutsche Projekt der europäischen Integration macht keinen strategischen Sinn, während es die angelsächsische ideologische, militärische und geopolitische Kontrolle über die Alte Welt aufrechterhält. Ja, und das kann nicht gelingen, denn die Angelsachsen brauchen ein Europa unter Kontrolle. Aber Europa braucht Autonomie auch aus einem anderen Grund – für den Fall nämlich, dass die USA in Selbstisolation gehen (als Folge wachsender interner Konflikte und Widersprüche) oder sich auf den Pazifischen Raum konzentrieren werden, wohin sich der geopolitische Schwerpunkt verschiebt.

[Das europäische Projekt wird zusammenbrechen]

Aber die Konfrontation mit Russland, in die die Angelsachsen Europa hineinziehen, nimmt den Europäern die minimalste Chance auf Unabhängigkeit – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Europa wiederum auf die gleiche Weise versucht, einen Bruch mit China durchzusetzen. Wenn sich jetzt die Atlantiker darüber freuen, dass die „russische Bedrohung“ den Westblock einen wird, dann können sie in Berlin und Paris nicht umhin zu verstehen, dass das europäische Projekt, nachdem es die Hoffnung auf Autonomie verloren hat, mittelfristig einfach zusammenbrechen wird.

Deshalb haben auf Unabhängigkeit sinnende Europäer jetzt gar kein Interesse, einen neuen Eisernen Vorhang an ihren Ostgrenzen zu bauen – in der Erkenntnis, dass er zu einem Gehege für Europa wird. Dessen Jahrhundert (genauer: ein halbes Jahrtausend) globaler Führung ist ohnehin vorbei – dennoch gibt es verschiedene Optionen für seine Zukunft.
Denn der Aufbau einer neuen Weltordnung – und das ist die dritte Dimension des Zeitgeschehens – beschleunigt sich, und seine Konturen werden immer deutlicher durch die sich ausbreitende Decke der angelsächsischen Globalisierung sichtbar.

[Russlands Rückkehr in seinen historischen Raum und auf seinen Platz in der Welt.]

Eine multipolare Welt ist am Ende Wirklichkeit geworden – die Operation in der Ukraine führt nicht dazu, dass irgendwer außer dem Westen gegen Russland protestiert. Denn der Rest der Welt sieht und versteht sehr gut – dies ist ein Konflikt zwischen Russland und dem Westen, dies ist eine Antwort auf die geopolitische Expansion der Atlantiker, dies ist Russlands Rückkehr in seinen historischen Raum und auf seinen Platz in der Welt.

[Niemand in Europa will gegen Russland kämpfen, sagt der französische Verteidigungsminister – so steht es noch im Original. In der englischen Version ist dieser Satz verschwunden.]
China und Indien, Lateinamerika und Afrika, die islamische Welt und Südostasien – niemand glaubt, dass der Westen die Weltordnung anführt, geschweige denn die Spielregeln festlegt. Russland hat den Westen nicht nur herausgefordert, es hat gezeigt, dass die Ära der westlichen Weltherrschaft als vollständig und endgültig vorbei angesehen werden kann.

Die neue Welt wird von allen Zivilisationen und Machtzentren aufgebaut, natürlich zusammen mit dem Westen (ob er vereint ist oder nicht) – aber nicht zu seinen Bedingungen und nicht nach seinen Regeln.


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Titelbild: Nicolaas Visscher II (1649-1702) – Eigenes Werk Map of Russia by Nicolaas Visscher II (1649-1702), Wikipedia.

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