Die Linke muss sich neu erfinden

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By Sebastian Reinfeldt

Sich neu erfinden, das ist natürlich leichter gesagt als getan. Aber: Dieses blaue Auge, das die Wähler*innen in Deutschland der Partei Die Linke verpasst haben, schimmert schon violett. Nur aufgrund von drei Direktmandaten, die linke Pragmatiker*innen in Ostdeutschland erreicht haben (Gesine Lötzsch und Gregor Gysi in Berlin; Sören Pellmann in Leipzig), zieht die Partei doch noch mit 39 Mandaten in den Bundestag ein. Sie hat aber rund 2 Millionen Stimmen (!) verloren. Was sind die Gründe für diesen Absturz? Sebastian Reinfeldt hat sich umgehört und durch Wahlanalysen gewühlt.


Enttäuschung und Bitterkeit

Wer die wenigen Meldungen einzelner Politiker*innen der Linken auf Twitter liest, findet viel Bitterkeit, wenig Schuldzuweisungen an einen der Flügel, Aufrufe zur Geschlossenheit – aber auch wenig Erklärungsversuche. Es sei ein beschissenes Ergebnis, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken, Jan Korte.

Der Elder-Frontman der Linken, Gregor Gysi meint:

Wenn wir dieses Mal noch mit einem blauen Auge davonkommen, dann sollten wir sehr selbstkritisch über uns und unsere Zukunft nachdenken.“

Die eine Bundesvorsitzende der Partei, Susanne Henning-Wellsow aus Thüringen, spricht von einer harten Ansage der Wählenden.

Lediglich diejenige, die mitten im Wahlkampf die Partei scharf kritisiert hat, die Politikerin Sahra Wagenknecht nämlich, kommentierte das Ergebnis in einem Medienstatement mit einer Schuldzuweisung:

Wir haben jetzt seit mehreren Jahren eher maue Wahlergebnisse gehabt. Und ich denke, das hat etwas damit zu tun, dass die Linke sich in den letzten Jahren immer weiter von dem entfernt hat, wofür sie eigentlich mal gegründet wurde, nämlich als Interessenvertretung für normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Rentnerinnen und Rentner“,

Dazu passt auch die Aussage des Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Er möchte die Sozialcharta seiner Partei neu fundamentieren.

Das Ausmaß der Niederlage

Tatsächlich sind die Wählenden in Scharen davon gelaufen. Noch in der Wahlnacht hat der Politikwissenschaftler Horst Kahrs seine Analyse Die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021. Wahlnachtbericht, erste Deutungen und Hintergründe des Wahlverhaltens vorgelegt. Sie ist eine Sammlung an soziologischen Erhebungen zur Wahl, zu Wahlmotiven und Milieu-Zugehörigkeiten der Wählenden. Und Kahrs beleuchtet, welche Rolle dies alles in der deutschen Parteienkonstellation gespielt haben. In trockenen Zahlen ausgedrückt hat Die Linke 2021 auf ganzer Linie und in allen Regionen in Deutschland deutlich verloren.

Wahlanteile Die Linke pro Wahlberechtigte (nicht pro abgegebene Stimme) seit 2005. Quelle: Kahrs: Die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021. Wahlnachtbericht, erste Deutungen und Hintergründe des Wahlverhaltens, September 2021

Im Osten Deutschlands verliert die Partei seit 2009 kontinuierlich an Rückhalt. Anders im Westen. Dort stellt diese Bundestagswahl einen beachtlichen Einschnitt dar: Die Aufbauarbeit von knapp einem Jahrzehnt scheint an einem einzigen Wahlgang zunichtegemacht. Daher dümpelt die Partei dort im Schnitt bei etwas mehr als drei Prozent herum. Im Osten liegt sie hingegen nurmehr in Berlin, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern zweistellig.

Stimmen absolut. Quelle: Kahrs: Die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021. Wahlnachtbericht, erste Deutungen und Hintergründe des Wahlverhaltens, September 2021

Das Resultat: Ein Minus von mehr als zwei Millionen Stimmen. Diese verlorenen Stimmen wanderten hauptsächlich zur SPD (590.000), zu den Grünen (470.000) und immerhin 370.000 zu den Nichtwähler*innen. Funfact: Sogar die FDP konnte mit 100.000 Stimmen am Linken-Kuchen mitnaschen.

Wofür steht die Partei eigentlich? Wer spricht für sie?

Niemand weiß ganz genau, wofür die Partei steht und wer für sie spricht. Und damit tackelt Horst Kahrs das zentrale Problem dieses Wahlkampfs und der Kompromiss-Konstruktion Die Linke. Denn die Partei hatte, angesichts des inszenierten Dreikampfs von SPD, CDU/CSU und Grüne um die Kanzler*innenschaft weder ein programmatisches Profil noch eine konturierte Frontfrau noch eine erwünschte Funktion im politischen System. Zumindest sahen das die Wählenden so. Zum Vergleich: Alle drei Attribute treffen aus deren Sicht auf die FDP zu, die daher mit 11 Prozent deutlich wahrnehmbar abgeschnitten hat, obwohl sie ebenfalls vom medial inszenierten Dreikampf ausgeschlossen war.

Viele Konzepte verderben die Breis

Das fehlende Profil ist auch das Ergebnis von 5 Jahren politischen Wirkens, in denen verschiedene Konzepte regional verschieden durchgespielt werden. In Berlin etwa, wo die Partei in der Landesregierung sitzt, stehen die Themen der Lifestyle-Linken auf dem tagespolitischen Programm, wie Wagenknecht das wohl bezeichnen würde. Von Queer bis Club-Kultur. Dazu aber haben sich die Genoss*innen als einzige Partei voll hinter den Enteignet Deutsche Wohnen-Volksentscheid gestellt. Dieser hat zwar eine deutliche Mehrheit bekommen. Die Wählenden haben ihn aber nicht mit der linken Partei in Verbindung gebracht, der diese Forderung praktisch auf den Leib geschneidert ist. Durchaus bemerkenswert. Der Berliner Linken-Chef Klaus Lederer meinte dazu in einer Pressekonferenz, er habe dafür zurzeit auch keine Erklärung.

Fehlender Gestaltungsanspruch?

In Thüringen wiederum stellt die Partei mit Bodo Ramelow den Regierungschef. Sie fährt dort einen sozialdemokratischen Reformkurs. Damit stehen sie im Landtag und auf den Straßen einer nach rechts radikalisierten bürgerlichen Front aus CDU, AfD und FDP gegenüber. Und unter ideologischem Dauerbeschuss. In diesem Bundesland können wir die Wahlverluste nicht mit Lifestyle-Themen erklären, sondern, so eine These, wohl eher mit einem politisch aufgeladenen Stadt-Land-Gefälle. Von dort kommt denn auch der fehlende Gestaltungsanspruch als Erklärung der Niederlage.

Linkspopulismus ohne Zuspruch

Nordrhein-Westfalen hingegen ist Sahra Wagenknecht-Land. Diese versucht in Reden und Büchern mit einem Linkspopulismus, der bewusst Tabubrüche einsetzt, bei den Wähler*innen zu punkten. Resultat: 3,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Das Netz ist aber voll mit Statements von Menschen, die sagen, sie hätten genau wegen diesem Kurs Die Linke nicht gewählt.


Ihre noch vorhandene lokale Verankerung in den größeren Städten in Ostdeutschland (Berlin, Leipzig, Dresden) hat Die Linke jedenfalls gerade noch im deutschen Bundestag gehalten. In der Fläche ist sie auch dort nicht mehr so stark präsent wie früher. Was auch demografische Gründe hat, denn der sogenannte demografische Wandel trifft Ostdeutschland besonders hart. Regionen dort entleeren sich seit Jahren.

In Westdeutschland indes ist die Partei auch in größeren Städten nur leidlich lokal verankert. Hier ist weiterhin Ideologie Trumpf. Die Westlinke hat (noch) nicht wirklich Fuß fassen können. Interessant bleibt die Frage, woran das eigentlich liegt. Jedenfalls ist hier ein weiterer Grund für die Schwäche der Partei zu finden.

Politische Sehnsüchte aufgreifen

Eine Episode dieser Wahl scheint mir erzählenswert zu sein. Der Obdachlosenarzt und Sozialmediziner Gerhard Trabert kandidierte in Mainz als Unabhängiger direkt für Die Linke. Der sozial engagierte Mediziner erzielte 12,4 Prozent der Direktwahl-Stimmen mit Aussagen wie dieser:

Ich war mehrmals im Ahrtal als Arzt vor Ort und habe Menschen in dieser Notsituation behandelt. Ich war und werde regelmäßig weiterhin mit den betroffenen Menschen im Dialog stehen und dann genau dies, was die Menschen mir aufgrund ihrer Erfahrung berichten, den Bundestagskollegen mitteilen [und] werde die Menschen nicht vergessen und […] immer wieder von meinen persönlichen Begegnungen berichten. Und ich werde mich für Klimaanpassungsmaßnahmen sowie Katastrophenschutzprojekte einsetzen.

Die Partei der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt bleibt weit hinter seinem guten Ergebnis zurück. Bei rund 5 Prozent nämlich. Das Beispiel zeigt, wie linke Politik über Politzirkel hinaus wirken könnte. Eine Person, die durch ihre Arbeit und Haltung überzeugt, vermittelt Politik. Sie weckt politische Sehnsüchte und bietet dazu Konzepte und Lösungswege an. Das meint die Politikwissenschaft übrigens, wenn sie von Narrativen spricht: eine verschränkte Erzählung, wo politisches Tun und politische Reden ineinander greifen.

Kernkompetenz wird nicht erkannt

Diese Episode ist deshalb besonders erzählenswert, weil die Analysen von Kahrs aufzeigen, dass bei der Linken dieser Widererkennungseffekt generell NICHT stattfindet. In Berlin nicht, in Erfurt nicht und in Mainz auch nicht.

Diese Daten kennzeichnen auch ein zentrales Problem der Linkspartei: Wenn für die Hälfte der Befragten ’soziale Gerechtigkeit‘ ein ’sehr wichtiges‘ Thema bei der Wahlentscheidung ist, der Linken aber nicht einmal ein Zehntel der Befragten Kompetenz auf diesem Feld zubilligt, dann hat eine Partei, die soziale Gerechtigkeit als ihren Markenkern behauptet, ein Problem, welches über ein reines Vermittlungs-problem weit hinausgeht. Möglich, dass in ihren sozialen Forderungen kein über-greifendes Muster einer gerechten Ordnung erkannt wird, möglich, dass ein solches Muster erkannt, aber nur von einer kleinen Minderheit geteilt wird, möglich, dass in entscheidenden Gerechtigkeitsthemen andere Parteien für kompetenter – wirklichkeitsnäher und durchsetzungsfähiger – beurteilt werden.

Es ist sicherlich lohnenswert, wenn die Partei herausfindet, welche dieser von Kahrs genannten Möglichkeiten zutrifft.

Auf ihrer Pressekonferenz am Montag nach der Wahl konnten die anwesenden Spitzenpolitiker*innen allerdings keine dieser Fragen auch nur im Ansatz beantworten. Etwas hilflos verwiesen sie auf die im Saal aufgehängten Wahlplakate, die allesamt soziale Fragen thematisieren.

Nur: Plakate machen halt keine Prozente.


Die Wahlanalyse zum Download

Horst Kahrs, Die Wahl zum deutschen Bundestag vom 26. September 2021

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